Karl Nolle, MdL

Der Spiegel 18/2012, 29.04.2012

Kleines Besteck - Zwölf Jahre lang finanzierten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ihr Leben im Untergrund und ihre Mordserie mit Banküberfällen.

 
Warum kam die sächsische Polizei ihnen so lange nicht auf die Spur?

Das Ende des Terrors besiegeln zwei Flaschen Wasser, drei Brötchen, drei Bananen und eine Packung Frischmilch. Der Rentner Egon S. war wegen dieser Lebensmittel auf dem Weg zum Lidl, als ihm am 4. November 2011 ein helles Wohnmobil auffiel, abgestellt auf einem Schotterplatz in Eisenach, vor einer leerstehenden Discothek. „Ungewöhnlich“, dachte der 76Jährige, denn an Werktagen stünden da sonst nie Autos.

Zwei „schmächtige Kerle“, so erinnert sich Egon S., seien angeradelt gekommen. Autodiebe? Das Wohnmobil startete und fuhr „zügig“ davon. Der Rentner merkte sich den ersten Buchstaben des Kennzeichens: V für Vogtlandkreis.
Dann trabte Egon S. erst mal zu seinen Bananen. Zehn Minuten später lief er
Streifenbeamten in die Arme, die wegen eines Bankraubs nach zwei Radfahrern fragten. Egon S. gab den entscheidenden Hinweis, der die Polizei zweieinhalb Stunden später zu dem Wohnmobil der Marke Sunlight von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos führte. Kennzeichen: VMK 1121.

Dem Pensionär und einer Provinz-Polizeitruppe glückte, was Heerscharen von Verfassungsschützern und Fahndern seit 1998 nicht gelungen war: eine rechte Zelle zu stoppen, die Angst und Schrecken in ganz Deutschland verbreitete. Denn nie war die Staatsmacht den Terroristen, denen 10 Morde, 14 Banküberfälle und zwei Bombenanschläge zugerechnet werden, bis dahin wirklich nahe kommen.

Eine detaillierte Analyse der Arbeit von Verfassungsschutz und Polizei zeigt, wie einfach Böhnhardt und Mundlos allein in Sachsen vermutlich zehn Geldinstitute unerkannt überfallen konnten, sieben davon in Chemnitz. Wären alle Informationen, die bei Polizeidienststellen und Verfassungsschutz lagen, etwa beim Bundeskriminalamt gebündelt worden, hätte die Bankraubserie von Chemnitz aus frühzeitig aufgeklärt werden können. Bedrückender noch: Auch den rechtsextremistisch motivierten Morden hätte viel eher ein Ende bereitet werden können.

So scheint die Geschichte der Überfälle, die bereits Untersuchungsausschüsse in Sachsen, Thüringen und im Bundestag beschäftigt, auch eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten – vor allem der sächsischen Polizei, die all die Jahre im Dunkeln tappte. Und die am Ende von den thüringischen Kollegen vorgeführt wurde.

Ihren ersten Raub planten Mundlos und Böhnhardt offenbar bereits Ende 1998, weil sich das Leben im Untergrund nach elf Monaten nicht mehr durch Spenden von Unterstützern finanzieren ließ. Am 18. Dezember 1998 bedrohten zwei als groß und schlank beschriebene Täter mit einer Waffe die Kassiererin eines Edeka-Markts in Chemnitz und entrissen ihr mehrere tausend Mark. Auf der Flucht wurden sie von einem 16-Jährigen verfolgt, auf den sie feuerten, den sie aber verfehlten. Heute glaubt das sächsische Landeskriminalamt, dass dies der erste Raub von Böhnhardt und Mundlos war.

Im Oktober 1999 ging es mit zwei Banküberfällen weiter. Auf einem grünen DDR-Moped fuhren Mundlos und Böhnhardt an der Chemnitzer Postfiliale in der Barbarossastraße vor. Sie stürmten in die Filiale, ballerten mit einer Schreck schusspistole und erbeuteten 5.787 Mark. Drei Wochen später suchten sie ein weiteres Postamt heim, raubten 62.822 Mark; ein Täter wurde als Linkshänder identifiziert.

Die übrige Spurenlage war dürftig. In der Filiale fand die Kripo sieben „Teilschuhabdrücke“ und ein Haar ohne Wurzel. Eine „DNA-Verifizierung“, so die Ermittler, wäre möglich – wenn es denn eine Vergleichsprobe gäbe.

So wenig die Polizei also hatte, so reichhaltig und brisant waren die Informationen, die beim Verfassungsschutz zu den Tätern bereits vorlagen.
Eine Quelle des Brandenburger Dienstes hatte im September 1998 gemeldet, ein Chemnitzer Rechtsextremist sei dabei, Böhnhardt und Mundlos Waffen für „einen weiteren Überfall“ zu besorgen. Im Januar 1999 ging beim Thüringer Ver fassungsschutz der Hinweis ein, die Gesuchten seien in Geldnot und hielten sich im Raum Chemnitz versteckt. Im November 1999, kurz nach den Überfällen, berichtete eine Quelle, Böhnhardt und Mundlos brauchten kein Geld mehr. Warum nur?

Natürlich hätte man in Thüringen erfahren können, dass Böhnhardt Linkshänder war. Und über die Eltern hätten auch DNA-Proben beschafft werden können. Alles Mosaiksteinchen, die aus heutiger Sicht ein volles Bild hätten ergeben können. Ergeben müssen?

Es gibt Fotos vom dritten Überfall der Männer. Als sie die Post in der Chemnitzer Johannes-Dick-Straße verließen, nahm einer im Vorraum die Maske vom Gesicht, zu sehen auf dem Überwachungsvideo. Was wäre gewesen, wenn es mit den Fahndungsbildern von Böhnhardt und Mundlos verglichen worden wäre?

Man hätte sie damit noch nicht gehabt, aber die Fahndung hätte eine andere Dimension bekommen. Rechte Bombenbastler im Untergrund auf Bankraubtour – das erinnert an die Beschaffungsaktionen der RAF. Diese neue Sichtweise hätte nach großem Besteck verlangt, nach Bundeskriminalamt und nach Bundes anwaltschaft. Zumal ein sächsischer Ermittler schon damals gewarnt hatte, „dass sich die rechte Szene vom Extremismus zum Terrorismus entwickeln“ könne. Es ist heute unklar, welche Informationen bei den Kriminalbeamten in Chemnitz ankamen. Vom Verfassungsschutz kamen vermutlich keine. Die Polizei suchte weiter einfache Bankräuber.

Normales Polizeihandwerk ist es, nach einem Banküberfall eine Ringalarmfahndung einzuleiten, in der Regel 20 Kilometer um den Tatort herum. An wichtigen Straßen wird der Verkehr aus Richtung Bank mindestens eine Stunde lang beobachtet, und die Fahrzeuge werden „möglichst lückenlos“ in Kontrolllisten erfasst. Diese Tabellen existieren heute aber nur zu vier der zehn Überfälle in Sachsen.

Gerade bei Raubserien sind diese Listen wichtige Ansatzpunkte, weil sie miteinander verglichen werden können. Taucht ein Fahrzeug an mehreren Tat tagen in der Nähe einer überfallenen Bank auf, ist es verdächtig. Glaubten die Beamten, die Täter wohnten vor Ort? Weil sie als Fluchtfahrzeug seit Sommer 2001 Fahrräder benutzten?

Inzwischen gilt es als sicher, dass Böhnhardt und Mundlos 2001 bereits in Zwickau wohnten. Aber 40 Kilometer weit werden sie mit der Beute auf dem Rücken kaum geradelt sein. Ging der Polizei also das Fluchtfahrzeug durch die Lappen?

Der zuständige Ermittler darf zu den Fällen nichts sagen. Das sächsische Innenministerium beschied auf Nachfrage des SPIEGEL, der Dienststellenleiter habe dies untersagt.

Dabei war Kriminaloberkommissar Jens Merten in früheren Zeiten durchaus gesprächig. Der Beamte trat während der Raub serie mehrfach vor die Fernsehkameras. 2007 etwa in der Sendung „Kripo live“. Ob er nach acht erfolglosen Jahren nicht mutlos werde, wollte die Moderatorin wissen. Nein, antwortete Merten: „Nach jedem Überfall erhöht sich der Ehrgeiz, den Tätern zu beweisen, irgendwann einmal: Die Polizei sitzt doch am längeren Hebel.“

Im Jahr 2002, nach einem Bankraub in Zwickau, besserte sich die Spurenlage. An einer Tresorraumtür fand sich Blut, mit dem eine komplette DNA-Analyse erstellt werden konnte. 2004 wurden Gipsabdrücke der Fahrradreifen gesichert, dazu DNA-Mischspuren an Münzbeuteln. Und es fand sich vor einer ausgeraubten Chemnitzer Sparkassenfiliale eine leere Flasche „Boonekamp“; an der Flaschenöffnung fand sich eine weibliche DNA, an der Verschlusskappe eine männliche. Tote Spuren. Nicht zuzuordnen. Aber mehr als nichts.

Die Routine, mit der Böhnhardt und Mundlos inzwischen auf ihren Raubzügen vorgingen, minderte ihre Aufmerksamkeit. 2004 übersahen sie im Vorraum einer Chemnitzer Sparkasse eine Kundin, die den Überfall bemerkte und auf die Straße rannte. Während die Täter drinnen wegen der kleinen Scheine entnervt brüllten: „Seid ihr eine beschissene Bank oder ein Kleingartenverein?“, hielt die Frau vor der Tür ein Auto an und alarmierte die Polizei. Doch als die Beamten eintrafen, waren Böhnhardt und Mundlos mit ihren Mountainbikes auf und davon.

Aus dem Ruder läuft 2006 ein Alleingang des Linkshänders. Vermutlich Böhnhardt überfällt in Zwickau eine Sparkassenfiliale. Weil angeblich niemand den Tresor öffnen kann, schlägt der Täter mit einem Ventilator auf eine Angestellte ein. Dann fällt ein Kunde über den Bankräuber her, kann ihn beinahe überwältigen. Ein Schuss kracht in den Fliesenboden. Kurz darauf versucht es der Auszubildende. Im Gerangel ein weiterer Knall. Der junge Mann wird durch einen Bauchschuss schwer verletzt, der Täter radelt ohne Beute davon.

Die Projektile werden endlich vom Bundeskriminalamt untersucht. Die Experten glauben, die Waffe sei ein spanischer Revolver Astra Cadix.

Als die Tatwaffe nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt gefunden wird, ist es immerhin ein Revolver. Allerdings ein tschechischer AlfaProj.

Die Thüringer Polizei ahnte früh, dass die Täter
den Fahndungsring nie verlassen hatten.

Mit jedem neuen Überfall geben Serientäter normalerweise ein Stück von sich preis – und wird ihre Enttarnung wahrscheinlicher. Dass Böhnhardt und Mundlos zehn Fälle in Sachsen zugeordnet werden, wirft kein gutes Licht auf die Ermittlungen. Nach einigen Bankrauben hätte man zum Beispiel aus der Höhe der erbeuteten Summen und den Zeiträumen zwischen den Taten Schlüsse ziehen können. Teilt man die Beute durch die Monate, kommt man im Durchschnitt auf etwa 4.000 Euro, welche die Täter in vier Wochen verbrauchten. So hätte sich ungefähr voraussagen lassen, wann der nächste Überfall drohte. Vielleicht sogar, wo: Seit September 2002 hatten die Männer nur noch Sparkassen überfallen.

Erfahrene Kriminalisten sagen, die Chemnitzer Sparkassen hätten zu diesen kritischen Zeiten überwacht werden können. Gab es dafür kein Personal? 37 Ge schäftsstellen hat die Sparkasse derzeit in Chemnitz. Versteckte Kameras im Außenbereich hätten zumindest scharfe Bilder ohne Masken liefern können.

Nach dem Beinahe-Desaster von Zwickau ließen Böhnhardt und Mundlos von Sachsen ab. Sie überfielen Ende 2006 und Anfang 2007 dieselbe Sparkassen filiale in Stralsund und machten die Beute ihres Lebens: 254.000 Euro.

Die rechte Zelle blieb dennoch berechenbar. Nach fast fünf Jahren, also einem durchschnittlichen Geldverbrauch von 4.500 Euro monatlich, traten sie am 7. September 2011 wieder als Bankräuber auf. Erstmals in Thüringen. Aus Tätersicht eine fatale Entscheidung.

Polizeidirektor Michael Menzel ist ein wuchtiger Mann mit Stiernacken und erstaunlicher Erfolgsbilanz. Der Chef der Polizeidirektion Gotha beschaffte 1992 acht millionenschwere CranachBilder wieder, die in Weimar gestohlen worden waren. 1998 stellte er drei Serienbankräuber auf frischer Tat. Er hatte den Überfall vorausgesehen.

Bevor sich Mundlos und Böhnhardt nach Thüringen verirrten, hatte Menzels Truppe eine Serie von zwölf Bankrauben gestoppt. Seine Direktion war noch gut sortiert, als die Polizei im September 2011 einen Notruf erhält: Banküberfall, Sparkasse Arnstadt.

In der Filiale geht es hektisch zu. Der Tresor lässt sich nicht öffnen. Eine Angestellte kann aus dem Hintereingang flüchten und die Polizei rufen. Einer der Täter schlägt wie von Sinnen mit einem Telefon auf den Kopf einer Bediensteten ein. Als der Filialleiter im Tresorraum gerade den Code eingibt, verschwinden die Männer per Fahrrad mit 15.000 Euro. Wie immer rechtzeitig vor Eintreffen der Polizei.

Menzel kann den Weg der Täter 400 Meter weit verfolgen. Doch die Radfahrer sind wie vom Erdboden verschluckt. Zeugen sagen, ein Täter sei Linkshänder. Menzel setzt ein Fernschreiben mit einer Bund-LänderAnfrage ab. So soll geprüft werden, ob es ähnliche Fälle gegeben hat.

Am nächsten Tag meldet sich die Polizei in Zwickau und kurz darauf Kommissar Merten aus Chemnitz. Die Serie ist erkannt, Menzel beginnt zu rechnen. 15000 Euro Beute, bisher brauchten sie 4.500 im Monat. „Es war klar, die kommen wieder“, sagt Menzel, „spätestens in drei Monaten.“ Wo? Menzel tippt auf Ilmenau, Nordthüringen oder Eisenach. Und die Fahrräder? Der Kriminalist glaubte nicht an einheimische Täter. Waren die Räder zurückgelassen worden? Oder diente ein Transporter als mögliches Fluchtfahrzeug? Auf den Ringlisten tauchte aber kein entsprechendes Modell auf.

Heute ist bekannt, dass Mundlos und Böhnhardt ein Wohnmobil gemietet hatten. Aber an den Kontrollstellen der Ringfahndung war das Zwickauer Kennzeichen nicht registriert worden. Hatten die Täter den Ring erst verlassen, nachdem die Polizeisperre nach einer guten Stunde wieder aufgehoben worden war?

Menzel trommelte seine Kripo-Leiter zusammen, schwor sie ein auf zwei Täter, scharfe Waffen, Fluchtfahrräder und auf die Taktik, die Ringfahndung auszusitzen. Die Informationen gingen bis zum Streifenbeamten auf der Straße.

Und Menzel hatte den richtigen Riecher. Nach zwei Monaten waren sie wieder da. Um 9.20 Uhr geht an jenem Freitag im November ein Notruf ein. Überfall Sparkasse Eisenach, zwei Männer, Fahrräder, mehr als 70 000 Euro Beute.

Es wird Ringalarm ausgelöst, und auf Fahrzeuge geachtet, in denen Räder verstaut werden können. Zehn Minuten später berichtet Rentner Egon S. von dem Wohnmobil. Menzel ist sich jetzt sicher: Er lässt den Ring auflösen, sucht mit allen verfügbaren Leuten im Stadtkern. Um 11.55 Uhr biegt der Streifenwagen „Am Schafrain“ um die Ecke, erkennt das Wohnmobil. Kurz darauf sind Böhnhardt und Mundlos tot.

Im Wagen fand die Polizei Skizzen und Karten – von Thüringer Städten wie Eisenach, Altenburg, Weimar, Erfurt und Gotha. Eine Filiale der Kreissparkasse Gotha ist im Grundriss aufgezeichnet. Sie ist kaum 800 Meter Luftlinie von Menzels Schreibtisch entfernt.

Steffen Winter