Karl Nolle, MdL
Agenturen, dapd, 18:03 Uhr, 15.05.2012
Thüringen: Behörden machten erhebliche Fehler bei Suche nach NSU-Terroristen
Thüringer Innenminister beklagt «handwerkliche und strukturelle Defizite» - Lieberknecht kündigt Konsequenzen an
Erfurt (dapd-lsc). Bei den Ermittlungen der Thüringer Sicherheitsbehörden auf der Suche nach der rechtsextremen NSU-Terrorgruppe hat es gravierende Fehler und Pannen gegeben. Die vom Land eingesetzte Untersuchungskommission um den ehemaligen BGH-Richter Gerhard Schäfer habe «erhebliche handwerkliche und strukturelle Defizite» aufgedeckt, sagte Innenminister Jörg Geibert (CDU) am Dienstag in Erfurt. Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) sagte, es müsse nun organisatorische Konsequenzen und weitere Änderungen in den Strukturen und Abläufen geben.
In dem Bericht wird den Sicherheitsbehörden ein in Teilen vernichtendes Zeugnis ausgestellt. Es habe sowohl an der notwendigen Abstimmung zwischen Behörden und Justiz als auch an der Auswertung, der Informationsweitergabe, der Dokumentation sowie der Kontrolle gemangelt, sagte Geibert. Mitunter habe es beinahe «chaotische Zustände» gegeben. Zufrieden zeigte sich der Ressortchef, dass weder Beate Zschäpe noch Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt, die dem «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) angehörten, von staatlichen Stellen gedeckt oder gar V-Leute des Verfassungsschutzes gewesen seien.
Führungsversagen und Inkompetenz
Das Schäfer-Gutachten lege «sowohl individuelles als auch strukturelles Versagen schonungslos offen», sagte Lieberknecht und verwies auf «massive Abstimmungsmängel zwischen den Behörden sowie Führungsversagen oder Inkompetenz auf verschiedenen Ebenen».
Justizminister Holger Poppenhäger (SPD) sagte, es sei für die Justiz eine Selbstverständlichkeit, sich aktiv an der schonungslosen Aufklärung der Morde des Zwickauer Trios zu beteiligen, als auch das Verhalten der Thüringer Behörden bei der Verfolgung des NSU kritisch zu prüfen. Für Montag seien daher der Generalstaatsanwalt sowie die vier Leitenden Oberstaatsanwälte aus Gera, Erfurt, Mühlhausen und Meiningen ins Ministerium geladen, um den Bericht auszuwerten und Konsequenzen für die Justiz zu beraten.
Im Fokus der weiteren Aufarbeitung stehe nun der Thüringer Verfassungsschutz, sagte Geibert. Dazu soll Schäfer den heutigen Zustand des Landesamtes analysieren. Zudem werde die ohnehin bei der Polizeistrukturreform anstehende Überprüfung des Landeskriminalamts (LKA) vorgezogen. In einem novellierten Verfassungsschutzgesetz soll die Informationsweitergabe verpflichtend werden. Zudem will sich Thüringen auf Bundesebene für eine bessere behördliche Zusammenarbeit einsetzen. Personelles Fehlverhalten soll ebenfalls geprüft werden.
Laut dem 260-seitigen Kommissionsbericht verfügte der Landesverfassungsschutz von Anfang an über «gute Kenntnisse» zum Trio. Allerdings unterblieb die Auswertung der Erkenntnisse gemäß nachrichtendienstlicher Grundsätze. Zahlreiche Meldungen von Informanten hätten den für die Auswertung zuständigen Mitarbeiter nicht erreicht. Die Kommission habe die vorliegenden Informationen erstmals zusammengestellt.
Demnach wäre früh erkennbar gewesen, dass das Trio nach dem Untertauchen 1998 beinahe im Monatsrhythmus über Geldsorgen klagte und später regelmäßig in der Szene nach Waffen anfragen ließ. Ebenso wäre erkennbar gewesen, dass die Drei ab etwa November 1999 ihren Geldbedarf decken konnten - vermutlich mit Banküberfällen. Irgendwann habe es genug Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt eine terroristische Vereinigung seien, sagte Schäfer weiter.
Katastrophale Aktenführung
Darüber hinaus beklagte Schäfer, dass es neben durchaus funktionierenden Beispielen für behördliche Zusammenarbeit - etwa bei der letztlich erfolglosen Fahndung im Jahr 2000 - auch scheinbar bewusste Alleingänge gegeben habe. So hätten etwa LKA und Verfassungsschutz getrennt bei Mundlos' Eltern nach dem Untertauchen ihres Sohnes nachgeforscht. Im Anschluss habe der Verfassungsschutz durch Anweisungen an die Eltern dem LKA mögliche Erkenntnisgewinne verbaut.
Die dreiköpfige Kommission hatte seit November für den Bericht zahlreiche Akten durchgesehen und rund 40 Zeugen befragt. Dabei seien die Unterlagen von «unterschiedlicher Qualität», zum Teil aber «katastrophal schlecht» gewesen. Der Neonazi-Gruppe werden deutschlandweit zehn Morde vor allem an ausländischen Kleinunternehmern zur Last gelegt.
Von Björn Menzel und Jürgen Wutschke
dapd/T2012051550720/jwu/cjt/kos
151803 Mai 12