Karl Nolle, MdL

Die Welt, 19.05.2012

NSU-Fahndung: Die verhängnisvolle Panne mit dem Autokennzeichen C-PW- 87

 
So nah wie in Heilbronn waren die Fahnder selten an den NSU-Terroristen dran. Das Autokennzeichen der Zwickauer Zelle fiel bei der Ringfahndung auf, doch die Ermittler werteten es nicht aus.

Auf der Gedenktafel sind zehn Namen eingraviert. Der letzte, etwas hervorgehoben, ist der von Michèle Kiesewetter (Link: http://www.welt.de/106237750) : "Polizeimeisterin, Heilbronn, *10.10.1984, †25.4.2007". Clemens Binninger steht erstmals davor, hält inne und sagt sichtlich erschüttert: "Ein beklemmendes Gefühl, auch noch fünf Jahre später."

Für das, was sich in Sichtweite dieses Ortes ereignet hat, findet er in diesem Moment nur drei Worte: "Heimtückisch, menschenverachtend, skrupellos." Binninger geht vom nördlichen Rand der Theresienwiese, dem Festplatz der Stadt Heilbronn, ein paar Schritte bis zu dem rotfarbenen Trafohäuschen. Der CDU-Politiker schaut auf seine mitgebrachte Lageskizze: "An dieser Stelle wurde Frau Kiesewetter ermordet und ihr Kollege Martin A. lebensgefährlich verletzt."

Binninger muss laut sprechen, hinter seinem Rücken donnern Züge über eine Bahnbrücke. Rechter Hand sieht er das von Bäumen gesäumte Neckarufer, links den Parkplatzbereich der Theresienwiese. Und davor den Tatort, direkt an der Trafostation. Dort legten die beiden jungen Polizisten am 25. April 2007 in ihrem Streifenwagen eine Mittagspause ein.

Es war ein ungewöhnlich warmer Tag, die Beamten hatten die Scheiben in ihrem 5er-BMW-Kombi heruntergelassen. Plötzlich standen zwei Männer neben ihnen, einer auf der Fahrer- und einer auf der Beifahrerseite. Sie hatten sich von hinten angeschlichen, richteten ihre Pistolen auf die Köpfe ihrer Opfer und drückten jeweils ein Mal ab. Kiesewetter war 22 Jahre alt, Martin A. 24.

Mord am hellichten Tag

Damals war Binninger davon überzeugt, dass der Mordanschlag rasch aufgeklärt werden könne. Das sollte sich als Irrtum herausstellen. Erst seit gut einem halben Jahr wird das Attentat dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe angelastet, zusammen mit neun weiteren Morden, 14 Banküberfällen und zwei Sprengstoffanschlägen.

Und jetzt ist Binninger damit betraut: Als Obmann der CDU/CSU-Fraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages will er herausfinden, warum die Zwickauer Zelle so lange unbemerkt mordend durch das Land ziehen konnte. Das Geschehen in Heilbronn wird das Gremium schon bald beschäftigen. Deshalb findet es Binninger "wichtig, sich auch vor Ort ein Bild zu machen."

Den 50-jährigen Christdemokraten berührt die Tat auf der Theresienwiese auch deshalb, weil Michèle Kiesewetter und Martin A. bei der Bereitschaftspolizei in Böblingen stationiert waren, dem Wahlkreis von Binninger. Und der wiederum war selbst mehr als zwanzig Jahre Polizist. "In dieser Zeit wurden zwei Kollegen ermordet, die ich gekannt habe", sagt er.

Beide seien getötet worden, als sie ihren Beruf ausübten. Im Fall der in Heilbronn ermordeten Polizistin war das offenbar anders. Sie wurde mit ihrem Kollegen angegriffen, als sie den Dienst ruhen ließ. Am helllichten Tag, auf einem öffentlichen Platz, im Herzen der Stadt – keine zehn Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Das macht die Tat so unfassbar.

Täter nahmen Dienstpistolen an sich

Vor Heilbronn hatte die Zwickauer Zelle mutmaßlich einen griechisch- und acht türkischstämmige Gewerbetreibende mit einer tschechischen Pistole des Typs Ceská CZ83 exekutiert. Offenbar sollte ein Signal gesetzt werden, eines gegen die vermeintliche Überfremdung des deutschen Volkes. Es lässt sich ein Motiv erkennen, so wahnhaft es sein mag: Hass gegen Ausländer.

Die Tat in Heilbronn hingegen richtete sich gegen zwei Deutsche. Warum? Weil sie Uniformen trugen? Verwendet wurden nun andere Waffen: eine Tokarew TT33 und eine Radom VIS35. Weshalb? Weil der Anschlag nicht mit der Ceská-Serie in Verbindung gebracht werden sollte? Jedenfalls änderten die Täter bei ihrem letzten Mordanschlag die Strategie.

Binninger unterstreicht eine weitere Besonderheit. Während bei den Morden an den Migranten nichts gestohlen wurde, war das Heilbronner Verbrechen mit einem Raub gepaart. Die Umstände lassen erschaudern. Die Täter zerrten ihre Opfer aus den Sitzen ihres Wagens und beschmierten sich dabei mit Blut. Nach Rekonstruktionen der Polizei gelang es ihnen nur so, die beiden Dienstpistolen vom Typ Heckler & Koch P2000 an sich zu nehmen.

Diese Waffen steckten in Holstern, die mit Sicherungsbügeln versehen waren. Die Pistole von Martin A. wurde mit Gewalt samt einer massiven Befestigungsschraube aus der Ledertasche gerissen. Bei der bereits toten Michèle Kiesewetter ergaben die Untersuchungen ein anderes Vorgehen: Ihr Oberkörper wurde an der Schulter- und Halspartie gepackt und so lange hin und her gezogen, bis die Waffe mühelos aus dem Holster genommen werden konnte.

Rituelle Demütigung der Polizei als Mordmotiv

Die Ablauf erklärt sich Binninger so: "Die Täter wollten ihre Macht gegenüber der Staatsgewalt demonstrieren, sie waren erkennbar von Allmachtsphantasien getrieben." Offenbar hätten die Neonazis kein Mitgefühl gehabt. Und keine Barriere. Sie hätten sich nicht gescheut, ihre bereits niedergestreckten Opfer auch noch zu traktieren: "Gegen einen solchen Körperkontakt gibt es normalerweise eine starke seelische Sperre."

Seine These wird durch Polizeidokumente gestützt. Der Akt der Entwaffnung habe einen Schwerpunkt in Heilbronn gebildet, heißt es im Ermittlungsbericht des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg (LKA) vom 29. April 2010.

Die Fallanalytiker des Anschlags, die anhand der Indizien ein Profil der Schützen erstellten, glaubten damals, dass auf der Theresienwiese eine generelle Abrechnung mit der Staatsgewalt stattgefunden haben könnte.

Für die Täter hätten wohl eine speziellen Reiz verspürt, sich "Insignien der polizeilichen Macht/Überlegenheit" anzueignen, stelle einen dar. Das Motiv könnte nach dieser Version eine Art ritueller Demütigung der Polizei gewesen sein.

Kurz gefasst bringt Binninger die NSU-Morde auf diese Formel: Erst lebten die Täter ihren Hass gegen Ausländer aus. Dann gegen Polizisten, die Repräsentanten der Staatsgewalt.

"Es hätte jeden Kollegen treffen können"

Das Trafohäuschen auf der Theresienwiese wurde von Polizisten gern als Pausenplatz angesteuert. Wussten das die Täter? Wenn ja, von wem? Haben sie an dieser Stelle ihren Opfern tagelang aufgelauert?

Binninger ist da skeptisch. Er vermutet, dass die Täter "zwar gezielt" an dem Ort waren, sich dann aber "eher spontan" zu dem Überfall entschlossen hatten: "Sie konnten nicht wissen, wann dort ein Streifenwagen auftaucht. Und sie konnten auch nicht wissen, wer im Wagen sitzt. Man wollte Polizisten attackieren, aber keine bestimmten. Es hätte jeden Kollegen treffen können."

Es gibt aber auch andere Hypothesen, von denen nicht wenige abenteuerlich klingen. Das Magazin "Stern" berichtete im Dezember unter Berufung auf ein angebliches US-Geheimdienstpapier über einen ungeheuerlichen Verdacht. Danach sollen deutsche Verfassungsschützer mit einem amerikanischen Geheimdienstmann am Tattag in Heilbronn einen Islamisten beschattet haben.

Überschrift des Artikels: "Mord unter den Augen des Gesetzes?" Darauf angesprochen, schüttelt Binninger den Kopf: "Diese Story ist in keiner Weise belastbar." Wahrscheinlich sei der Redaktion ein gefälschtes Papier untergejubelt worden.

"Kaum ein Zweifel" an Täterschaft der Zwickauer Zelle

Zu Heilbronn gab es schon alle möglichen Theorien. Mal soll die Mafia der Drahtzieher gewesen sein, mal soll Drogenhandel eine Rolle gespielt haben, mal soll es eine Beziehungstat gewesen sein – Kiesewetter stammte ebenso wie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ursprünglich aus Thüringen. Binninger hält von all’ dem nichts.

Er hat sich festgelegt, ihm erscheint der Fall in diesem Punkt recht simpel: "Es gibt keine Hintermänner, keine Verwicklung von Geheimdiensten, keinen Bezug zum organisierten Verbrechen." Der wichtigste Beleg für Binninger ist die Bekenner-DVD.

In dem Film, in dem die Comicfigur "Paulchen Panther" einem Polizisten von hinten in den Kopf schießt, verhöhnt ein Sprecher die Opfer: "Und dass da schon zwei Polizisten stehen, kann auch mit rechten Dingen nicht zugehen."

An einer anderen Stelle werden eine Luftbildaufnahme mit den eingefügten Textfeldern "Tatort" und "Heilbronn", ein Foto von der Spurensicherung am Trafohäuschen sowie Szenen der Trauerfeier für Kiesewetter gezeigt.

In der Schlusssequenz schließlich ist die Dienstpistole von Martin A. mit der Seriennummer 116-010514 zu erkennen. Binninger: "Wer diese widerliche DVD gesehen hat, kann kaum einen Zweifel daran haben, dass das Attentat auf das Konto der Zwickauer Zelle geht."

Verhängnisvoller Fehler

Das heißt nicht, dass Binninger keinen Aufklärungsbedarf sieht, im Gegenteil. Der LKA-Ermittlungsbericht von 2010 dokumentiert eine offenkundig schwere Ermittlungspanne. Kurz nach den beiden Schüssen auf der Theresienwiese, die gegen 14 Uhr abgefeuert worden waren, hatte die Polizei an Ausfallstraßen der Stadt eine Ringfahndung eingeleitet.

An dem Kontrollpunkt Oberstenfeld in Richtung Autobahn notierten Beamte am Tattag 20 Kennzeichen von auffälligen Fahrzeugen, darunter gegen 14.37 Uhr das Wohnmobil mit der Chemnitzer Nummer C-PW 87. Die Fahnder beabsichtigten daraufhin, die Fahrzeughalter zu ermitteln.

Aber dieser Schritt, so der Bericht, wurde "zurückgestellt" – und auch später nicht gegangen. Binninger bewertet das so: "Durch die Ringalarmfahndung war man den Tätern so nah wie noch nie." Aber man habe es versäumt, die notierten Kennzeichen umfassend und konsequent zu überprüfen. "Das war ein verhängnisvoller Fehler. Mit dieser Spur hätte man das Terrortrio schon 2007 identifizieren können."

Böhnhardt mietete Wohnmobil unter falschem Namen

Das Wohnmobil C-PW87 hatte das NSU-Mitglied Böhnhardt in Chemnitz angemietet. Allerdings nicht unter eigenem Namen, sondern mit Personaldokumenten, die auf den damals im Raum Hannover wohnenden Holger G. ausgestellt waren. Der frühere Rechtsextremist, der jetzt als Beschuldigter in Untersuchungshaft sitzt, war einst ebenso wie die NSU-Mitglieder im Neonazi-Netzwerk Thüringer Heimatschutz engagiert.

Hätten die Fahnder ihn im Jahr 2007 danach befragt, ob er am Tattag in Heilbronn war, wären Ungereimtheiten aufgefallen. Holger G. ging in Niedersachsen einer regelmäßigen Arbeit nach und konnte deshalb nicht gleichzeitig in Baden-Württemberg sein.

Ferner hätte die Polizei dem Autoverleiher Fotos von Holger G. vorlegen können und wohl spätestens dann erfahren, dass eine andere Person das Wohnmobil gemietet hatte.

Mehr noch, auf dem Vertrag für das Fahrzeug war die Handynummer 0160-98474372 vermerkt. Sie hätte die Fahnder vermutlich zum Zwickauer Unterschlupf der Neonazis geführt. Selten waren die Voraussetzungen für eine Festnahme des Trios so gut.

Polizei überwachte Kiesewetters Grab mit Videokamera

Wäre diese Spur konsequent verfolgt worden, hätte die Polizei die wahren Hintergründe und Täter der schlimmsten rechtsextremistischen Verbrechensserie der Bundesrepublik schon vor fünf Jahren aufdecken können. Dann würde heute wohl keiner von einem "deutschen 9/11" sprechen, wie es Generalbundesanwalt Harald Range jüngst getan hat.

Im Nachhinein ist man stets klüger. Binninger warnt ebenfalls davor, den Fall mit dem heutigen Wissen zu beurteilen. Tatsächlich tappte die Polizei bis zuletzt im Dunkeln, trotz zahlreicher Hinweise, Spuren und Zeugen.

Die Not der Fahnder war so groß, dass sie das Grab von Kiesewetter nach der Beerdigung mit einer Videokamera überwachten. Sie hofften, die Täter würden ihre letzte Ruhestätte aufsuchen. Der einzige direkte Tatzeuge, Kiesewetters Kollege Martin A., wurde nach Genesung unter Hypnose zu seinen Erinnerungen befragt.

Und die Polizei in Baden-Württemberg überprüfte zeitweise sogar die Besucher ihrer eigenen Internetseite – doch auch diese Ausspähaktion brachte nichts.

Kritik an Kompetenzwirrwarr

Was Binninger kritisiert, ist Kompetenzwirrwarr. Weil bei der Tat von einem örtlichen Bezug ausgegangen wurde, war zunächst die Polizeidirektion Heilbronn zuständig. Ihre Soko "Parkplatz" war aber mit den Ermittlungen überfordert.

Deshalb musste das LKA nach knapp zwei Jahren die Federführung übernehmen. "Viel zu spät", sagt Binninger. Noch unübersichtlicher wirke die Gesamtschau aller zehn NSU-Morde, die in sechs Bundesländern verübt worden sind. "Jedes Land ermittelte für sich, für jedes Land war eine andere Staatsanwaltschaft zuständig. Dazu gab es noch eine übergeordnete Steuerungsgruppe."

Welche Lehre müsste aus dem Debakel um die Zwickauer Zelle gezogen werden? Binningers Fazit: "Bei Gewaltverbrechen in mehreren Bundesländern ist eine zentrale Ermittlungsführung zwingend. Das muss nicht immer das BKA sein, auch ein Land kann diese Rolle übernehmen, dann allerdings mit Weisungsbefugnis."

NSU führte erbeutete Pistolen "wie Trophäen" mit

Für Binninger ist es bis heute unerklärlich, warum die Mordserie in Heilbronn offenbar abrupt endete, gut vier Jahre bevor Böhnhardt und Mundlos sich am 4. November 2011 nach einem Banküberfall sich selbst richteten. Führte der erste Mord an einer Deutschen, einer wehrlosen Frau, zu heftigen Konflikten in der Gruppe? Lag darin der Grund, dass keine weiteren Morde geschahen?

Zu den in Heilbronn erbeuteten Polizeiwaffen entwickelten Böhnhardt und Mundlos jedenfalls eine innige Beziehung. "Sie haben die Pistolen offenbar wie Trophäen auf ihren zahlreichen Reise quer durch Deutschland mitgenommen", sagt Binninger.

Die Waffen lagen in dem zuletzt angemieteten Wohnmobil, in dem die Polizei die Leichen von Böhnhardt und Mundlos fanden. Hingegen wurden die Tatwaffen, mit denen die Beamten ermordet worden waren, im Brandschutt der Zwickauer Wohnung der Rechtsextremisten entdeckt.

 Von Martin Lutz und Uwe Müller