Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 16.06.2012

Tiefe Einblicke ins rechtsterroristische Milieu

 
Erster öffentlicher U-Ausschuss zur Zwickauer Neonazi-Zelle / Experte kritisiert Verfassungsschutz im Freistaat

Dresden. Der U-Ausschuss zur Aufarbeitung der Zwickauer Neonazi-Mordserie steht in Sachsen unter keinem guten Stern. Nur zögerlich hat sich Schwarz-Gelb dazu durchgerungen, ein solches Kontrollgremium im Landtag zu etablieren. Und jetzt, zur ersten öffentlichen Sitzung gestern in Dresden, haben auch noch die Sachverständigen reihenweise abgesagt. Gleich drei von vier geladenen Wissenschaftlern hatten entweder keine Zeit - oder keine Lust. Immerhin war am Ende doch einer gekommen: der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Fabian Virchow, ein ausgewiesener Kenner der rechtsextremen Szene in Deutschland.
Was Virchow zu berichten wusste, war allemal geeignet, ein wenig Licht ins Dunkel jenes Milieus zu bringen, zu dem auch das Neonazi-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gehörte. Und nicht nur das: Virchow widmete sich ausgiebig der Rolle der sächsischen Behörden, dem Verfassungsschutz vor allem.

Sein Urteil ist eindeutig. Erstens: In den 90er Jahren waren die Ermittler dem rechtsterroristischen Milieu noch auf der Spur. So habe der Verfassungsschutz durchaus von "terroristischen Konzeptionen" und "organisierter Militanz" gesprochen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem mittlerweile verbotenen Neonazi-Netzwerk "Blood & Honor".

Und sogar auf die Zentren hätten die Verfassungsschützer in den 90er Jahren hingewiesen: Chemnitz, Zwickau, Meerane - also genau jene Region im Westsächsischen, von wo aus das Terror-Trio seine Mordserie plante.
Doch dann kam - zweitens - der Bruch. "Ab dem Jahr 2000", sagte Virchow, "verschwindet der Terminus ,Rechtsterrorismus' wieder allmählich aus den Berichten." Dabei habe es Hinweise zuhauf gegeben, vor allem über Verbindungen des Terror-Trios zu "Blood & Honor". Fazit laut Virchow: "Es gab zahlreiche Indizien, die aber nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt wurden." Die Ermittler hätten zwar in die richtige Richtung geguckt, diesen Ansatz aber fallen gelassen.

Das ist erklärungsbedürftig, und auch Virchow nannte den Perspektivwechsel "geradezu paradox". Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass sich die sächsischen Geheimen nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York auf islamistische Gruppen konzentriert haben - und die Beobachtung der Neonazi-Szene ausdünnten. Ein anderer könnten die Personalquerelen und -verschiebungen sein. Denn 2002 gab es einen Wechsel an der Spitze des Verfassungsschutzes, und auch der langjährige Innenminister Klaus Hardraht (CDU) musste im Zuge einer Kabinettsumbildung gehen.

Darüber hinaus offerierte Virchow weitere Details zum Unwesen der rechtsterroristischen Szene in Sachsen. Zum einen verwies er auf die deutliche Radikalisierung samt wachsender Gewaltbereitschaft; zum anderen erneuerte er seine alte These, der Neonazi-Terror aus Zwickau sei weder einmalig in der Republik, noch sei er ein Ost-Phänomen. So hätten Rechtsextreme im Westen schon vor der Wende Anschläge und Morde verübt. Allerdings gab es auch in der DDR lose organisierte Neonazis, sogenannte Faschos.

Jürgen Kochinke