Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 23.06.2012

Eine Chronik des Versagens - Parlamentarische Kontrollkommissionen von Sachsen und Thüringen kritisieren Verfassungsschützer

 
Dresden/Erfurt. Die Rolle der Sicherheitsbehörden beim Vorgehen gegen das Zwickauer Neonazi-Trio beschäftigt weiter die Landtage. Gestern tagten parallel die Parlamentarischen Kontrollkommissionen (PKK) von Sachsen und Thüringen, und die Lesart ist nahezu identisch. Die Ermittler hätten es mit der Beobachtung der rechtsextremen Szene nicht so genau genommen, Defizite gebe es vor allem beim Verfassungsschutz.

Es war eine denkwürdige Pressekonferenz gestern Nachmittag in Dresden. In dem Raum war kein Stuhl mehr frei, rundherum standen Kameraleute und Fotografen. Geladen hatte die PKK Sachsen, und neben dem Chef Günther Schneider (CDU) waren zwei weitere Mitglieder erschienen: Die Linken André Hahn und Kerstin Köditz - um ihr Minderheitenvotum abzugeben.

Was Schneider dann zu sagen hatte, ist im Kern bekannt: Nach Ansicht der gesamten PKK gab es erhebliche Defizite bei der Aufklärung der rechtsextremen Mordserie im Freistaat. "Systemversagen" nannte das Schneider gestern - und "Inkompetenz". Damit bestätigte er einen Bericht der Leipziger Volkszeitung.

Dabei liest sich der Bericht wie eine Chronik des Versagens. So bescheinigte das Kontrollgremium den Ermittlern bereits in der Frühphase des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gegen Ende der 90er Jahre eine Reihe von Unzulänglichkeiten. Vorhandene Informationen seien weder zusammengefügt noch systematisch ausgewertet worden. Eine zentrale Koordination der Behörden habe sowieso gefehlt. Und auch danach habe sich der Verfassungsschutz nicht mit Ruhm bekleckert. So hätten sich die Geheimen weitgehend auf die Aktivitäten der Thüringer Kollegen verlassen. Eigene Erkenntnisse, die durchaus vorhanden waren, hätten sie "nicht weiter verfolgt", meinte Schneider.

Und dann setzte der CDU-Mann endgültig zur Kritik an. "Ich muss doch von einem Verfassungsschützer verlangen, dass er selbst nachdenkt" - vor allem dann, wenn von der Thüringer Behörde wenig Substanzielles kommt. Das gelte generell, aber auch für die Beobachtung des rechtsextremen Netzwerks Blood & Honour sowie der Weißen Bruderschaft Erzgebirge. Fazit laut Schneider: "In der offensichtlich mangelhaften Zusammenarbeit und Kommunikation liegt die Hauptursache für das staatliche Versagen im Zusammenhang mit dem NSU."

Für einen Christdemokraten sind das beachtlich eindeutige Worte, und relative Einigkeit bestand auch in der fünfköpfigen PKK selbst. So bestätigten Hahn und Köditz die Aussage von Schneider, im Gremium habe - trotz unterschiedlicher Parteifarben - in rund 80 Prozent der Punkte Konsens bestanden. Das Gremium besteht aus zwei CDU-Abgeordneten, den beiden Linken und einem Mitglied der FDP.

Trotz der weitgehenden Übereinstimmung bestanden Hahn und Köditz an drei Punkten auf einer anderen Lesart: Sie fordern ein größeres Augenmerk auf das rechtsterroristische Netzwerk hinter dem Terror-Trio; sie kritisieren den unklaren Einsatz von V-Leuten; und sie bezweifeln, dass die PKK alle Akten habe einsehen können.

Dass man sich beim Thüringer Verfassungsschutz ebenso ungern in die Akten schauen lässt, mussten auch die Erfurter Abgeordneten immer wieder feststellen. Das monierte der langjährige Chefkontrolleur Wolfgang Fiedler (CDU) gestern, als er den aktuellen Tätigkeitsbericht im Thüringer Landtag vorstellte. Seit dem letzten Bericht vor zwei Jahren habe das Gremium 19 Mal im Landesamt für Verfassungsschutz Aktenberge gewälzt - allein seit dem Auffliegen der Jenaer Terrorzelle im vergangenen November elf Mal.

Zum Vergleich: In den zwei Jahren zuvor waren es nur sechs Sitzungen. Die Thüringer PKK hatte zuletzt so viel zu tun wie lange nicht. Aber sie stieß an Grenzen, monierte Fiedler. Man habe gemerkt, dass die "Befugnisse keineswegs immer ausreichten, um dem Kontrollauftrag im erforderlichen Umfang nachzukommen", flankiert durch eine "unzureichende Auskunftsbereitschaft" der Regierung. So habe Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) der von ihm eingesetzten Kommission zur Untersuchung der erfolglosen NSU-Ermittlungen in Thüringen erlaubt, die Klarnamen rechtsextremer V-Leute einzusehen. Warum die PKK dies nicht dürfe, dafür sei die Regierung bis heute eine Erklärung schuldig, kritisierte Fiedler.

Zur Arbeit des Geheimdienstes, dessen eigener Jahresbericht seit Monaten überfällig ist, wies Fiedler auf die nach wie vor große Gefahr aus dem rechtsextremen Spektrum hin, die einen Schwerpunkt der Beobachtung ausmache. "Mit gewisser Sorge" betrachte die PKK jedoch das geplante NPD-Verbotsverfahren, das nicht noch einmal scheitern dürfe. Als unterschätzt bezeichnete der Innenpolitiker das Sicherheitsrisiko durch Rockerbanden, die derzeit wieder in Thüringen erstarken.

Von Jürgen Kochinke und Robert Büssow


Biedenkopfs Irrtum und die Folgen
Kommentar von Jürgen Kochinke

Die Sachsen seien "immun" gegenüber rechtsextremem Gedankengut. Dieser Satz von Ex-Regierungschef Kurt Biedenkopf hat viele Jahre das politische Klima im Lande geprägt. Er stammt vom Ende der 90er Jahre und war schon damals falsch. Mittlerweile aber ist der Irrtum amtlich. Denn genau in jenen Jahren tauchte das Neonazi-Trio aus dem thüringischen Jena unter und zog ein paar Kilometer weiter - nach Sachsen.

Das ist die eine Seite des Problems, die andere ist, dass das keinem aufgefallen war. Denn fest steht: Ein ganzes Jahrzehnt hatten die Sicherheitsbehörden das Trio im ach so "immunen" Freistaat nicht auf dem Schirm. So agierte der Rechtsterrorismus von dort aus, wo er sich am wohlsten fühlt: Aus dem Untergrund. Das bescheinigen die Experten nun fast täglich, erst in Thüringen und nun - endlich - auch Sachsen. Dass es Mängel bei den Ermittlungen gab, ist so glasklar, dass auch Biedenkopfs Partei, die CDU, es nicht leugnen kann. Das zumindest ist mal eine gute Nachricht.