Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 24.09.2012

Alles auf Anfang - Sachsens SPD-Chef Dulig will regieren, wehrt sich aber gegen Koalitionsdebatten

 
Dresden. Sachsen ist die Herzkammer der Sozialdemokratie, das Stammland der SPD - doch die einstige Hochburg ist zur Diaspora geworden. Auf ihrem Landesparteitag geben sich die Genossen jetzt ungewohnt kampfesmutig: Einem Frontalangriff auf die herrschende CDU folgt die utopisch anmutende 20-Prozent-Marke, die vom alten und neuen Landesvorsitzenden Martin Dulig als Wahlziel für 2014 ausgegeben wird.

Es ist politischer Brauch, nicht ganz so gute Wahlergebnisse schön zu reden. Auf Parteitagen sprechen die Gewählten deshalb bei Margen zwischen 70 und 79 Prozent gern von "ehrlichen Ergebnissen" - die die lebhaften Diskussionen widerspiegeln würden. Auch Martin Dulig hatte sich am Wochenende bereits auf derart ehrliche Ergebnisse eingestellt: Zu vielschichtig sind die Richtungsdebatten in seiner Sachsen-SPD, zu ausgeprägt die Koalitionsdiskussionen unter den Genossen, und das zwei Jahre vor dem nächsten Urnengang im Freistaat. Doch dann das: Martin Dulig, der seit dem Wahldesaster von 2009 die sächsische Sozialdemokratie durch die Mühen der politischen Ebene laviert und beim Parteitag als einziger Kandidat auf den Vorsitz ins Rennen geht, erhält 110 von 135 Delegiertenstimmen. In diesem Fall lässt sich sagen: Satte 81,5 Prozent. "Das ist kein ehrliches Ergebnis mehr, das ist ein richtig gutes Ergebnis", sagt der 38-Jährige, und die Erleichterung atmet aus jeder seiner Poren. Nach den 77 Prozent bei der letzten Vorstandswahl ein echter Zuwachs. Mehr ist von ihm nicht zu leisten gewesen. Vorerst.

Laut Umfragen kennt ihn nur etwa jeder dritte Sachse, dümpelt seine Partei bei 14 bis 16 Prozent, halten selbst etliche SPD-Wähler den Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (CDU) für eine gute Wahl. Nach 2009 hat es die Sachsen-SPD bislang kaum geschafft, sich aus ihrer Lethargie zu befreien. Doch das soll nun Schnee von gestern werden - alles auf Anfang, gibt Martin Dulig die Richtung vor: "Wir müssen die vergangenen 20 Jahre abhaken. Die Zeiten, in denen wir uns mit Stellvertreter­debatten selbst geschwächt haben, müssen vorbei sein", redet der alte und neue Vorsitzende in einer an Höhen reichen 45-Mi­nuten-Rede den Genossen ins verblichene rote Gewissen.

Martin Dulig im September 2012, das ist der Wandel vom ehemaligen Juso-Führer zum integrationswilligen Realo, das scheint die Verkörperung einer neuen Bissigkeit. "Wo ist die Staatsregierung, die aktiv Politik macht? Ich sehe nur eine Regierung, die herrscht und verwaltet", ruft Martin Dulig mit ausgebreiteten Armen in den blutrot getünchten Saal auf der Messe Dresden, "Herr Tillich denkt, es wäre schon Politik, wenn er durchs Land reist und in die Kameras lächelt. Er denkt, er kann die Leute verarschen." Beifall, lange anhaltend, folgt. Ja, das liebkost die malträtierten Parteiseelen. Manch einer reibt sich verwundert die Ohren: Ist das wirklich unser Martin, der gerade vom Pult aus die neue Lust an ihrer SPD erfindet?

Irgendwann geht das Klatschen in ein Raunen über - als der Vorsitzende die Marke von 20 Prozent für die nächste Landtagswahl ausgibt. Nach zehn Prozent anno 2009. Mit so viel Selbstbewusstsein haben nur wenige der De­legierten gerechnet. Doch Martin Dulig sagt auch, wie die SPD dieses Ziel erreichen soll: "Wir haben den Leuten die ganze Zeit einreden wollen, dass es ihnen schlecht geht. Und dann haben wir uns gewundert, dass es ihnen doch nicht ganz so schlecht geht, wie wir gedacht haben. Vielleicht sollten wir mehr mit den Menschen sprechen, liebe Genossinnen und Genossen!"

Die Sachsen-SPD, die noch immer schwer an ihrer Juniorpartnerschaft in der als unselig empfundenen großen Koalition zu tragen hat, müht sich um ein neues Selbstbewusstsein - indem sie zunächst einmal ihr Selbstverständnis zu klären sucht. Nach außen mag das wie der Versuch eines Leichtgewichts anmuten, das es mit einem der Klitschkos aufnehmen will. Auch auf dem Parteitag sind die Flügel wortreich vertreten: Die einen wollen dem Landeschef eine Koalitionsdebatte überstülpen, um in einer linken Regierung die Union in die Verbannung zu schicken; die anderen arbeiten hartnäckig daran, die Braut SPD aufzuhübschen, damit deren Antlitz der CDU zusagt. "So geht das nicht", durchkreuzt Martin Dulig jegliche Regierungspläne, "die Menschen da draußen müssen doch erst einmal wissen, wofür wir stehen und was sie von uns erwarten können."

Zwei Themen, die die SPD in Sachsen wieder zu einer Volkspartei werden lassen sollen, sind soziale Gerechtigkeit und Bildung. Themen, die auch auf die Entstehung der Sozialdemokratie rekurieren. Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der Bundes-SPD, erinnert in Dresden an die mühevollen An­fänge der Partei, die eben in Sachsen liegen. "Wir müssen die Erfolgsgeschichte, die vor 150 Jahren mit Fer­dinand Lassalle in Leipzig begonnen hat, weiterschreiben", fordert Sigmar Gabriel von den Genossen, und verkündet: "Ich mache keine Formelkompromisse mehr. Die SPD darf nur noch das ver­sprechen, was sie auch halten kann." Dabei schwingt mit: Die Partei hat sich und den Wählern nicht selten etwas vorgemacht.

Es passt zur Dramaturgie des Parteitags, dass Greta Wehner, die in Dresden lebende Witwe des früheren SPD-Vor­denkers Herbert Wehner, mit stehenden Ovationen für ihre 65-jährige Parteimitgliedschaft geehrt wird. Martin Dulig überreicht einen Blumenstrauß; Greta Wehner, inzwischen 87 Jahre, hebt zu einer eindringlichen Mahnung an: "Es genügt nicht, Mitglied in dieser Partei zu sein - wir müssen für die Menschen arbeiten", sagt sie mit brüchig-bebender Stimme. Irgendwie passt das zur neuen Ehrlichkeit.

Von Andreas Debski
a.debski@lvz.de

Große Ziele unerwartete Signale
Kommentar von Andreas Debski

20 Prozent als Zielmarke für die Landtagswahl, verbunden mit dem Willen zur Macht - das ist, was vom Parteitag der Sachsen-SPD als plakative Botschaft stehen bleibt. Man mag die sächsischen Genossen dafür als weltfremd belächeln. Doch die Ergebnisse der Bundestagswahlen von 2005 und 2002, als die SPD im Freistaat 24 beziehungsweise 33 Prozent gewann, zeigen: Es gibt im Freistaat durchaus ein ihr zugeneigtes Wählerpotenzial. Bislang krankte es auf Landesebene allerdings an vielem: an Führungspersonal, an Richtungsstreitereien, an Themen, die zum Alleinstellungsmerkmal taugen. Deshalb steht die SPD nirgendwo in Deutschland schwächer da als in ihrem einstigen Stammland. Die Partei könnte wieder ernst genommen werden, wenn sie sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Der Dresdner Parteitag sendet ein solches Signal aus. Das ist mehr, als zu erwarten gewesen ist.