Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 24.09.2012
Der V-Mann, der Senator und die Offenheit
Die Berliner Polizeiführung widerspricht einem SPIEGEL-Bericht über zurückgehaltene Akten über einen V-Mann im Neonazi-Milieu. Es geht um einen vertraulichen Brief, mit dem die Behörde die Geheimhaltung begründete. Wer hat Recht und was genau steht in dem bislang unveröffentlichten Schreiben?
Im aktuellen SPIEGEL, Heft 39, Seite 41, kritisieren wir Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) und seine Polizei. Es geht um die Frage, ob Henkel die Wahrheit sagt und damit als Senator noch tragbar ist.
In der Affäre um den früheren V-Mann Thomas S., der länger als zehn Jahre für das Landeskriminalamt aus der Neonazi-Szene berichtete und einer von 13 Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) ist, hat sich der Senator öffentlich zu rechtfertigen versucht, warum er dem Untersuchungsausschuss im Bundestag so lange nichts von dem Fall gesagt hat. "Meine Polizeiführung hat mir glaubhaft versichert, dass es eine Verabredung zwischen der Polizei und Karlsruhe gab", so Henkel. Mit Karlsruhe meinte der Politiker die dortige Bundesanwaltschaft, die in dem NSU-Verfahren ermittelt. Danach sollten die Akten "geheim gehalten werden, bis eine Gefährdung der laufenden Ermittlungen geprüft" sei. Das galt aus Berliner Sicht bis in die Gegenwart. Henkel ließ die Akten erst an den Ausschuss übermitteln, als der Fall vor zehn Tagen öffentlich wurde, die Debatte eskalierte und erste Stimmen seinen Rücktritt forderten.
Der SPIEGEL hat den Senator im aktuellen Heft mit einem Schreiben seiner Polizeiführung konfrontiert, das Henkels Erklärung widerspricht. Demnach hat die Polizei die gesamte Akte gezielt zurückgehalten, vor dem Ausschuss wie vor der ermittelnden Bundesanwaltschaft. "Bei Übersendung der Unterlagen" könne "eine spätere Offenlegung im Wege der Einsicht durch den Untersuchungsausschuss nicht ausgeschlossen werden", heißt es in dem Brief, der unter dem Briefkopf von Staatsschutzchef Oliver Stepien am 3. April aufgesetzt und von Polizeivizepräsidentin Margarete Koppers "in Vertretung" unterzeichnet wurde. Am 29. März, so geht das Schreiben weiter, habe der zuständige Bundesanwalt in einem Telefonat mitgeteilt, er gehe "sogar sicher davon aus, dass die Akten alsbald dem Untersuchungsausschuss vorgelegt werden müssten". Dem "Wunsch auf Übersendung aller Akten" könne man unter anderem deshalb "nicht entsprechen".
Am Wochenende, nachdem die Agenturen den SPIEGEL-Bericht aufgenommen hatten, widersprach Berlins Polizeisprecher Stefan Redlich öffentlich. Auf der ersten Seite des Schreibens stehe, dass die Berliner Polizei das Ziel verfolge, alle Bezüge des V-Manns zum NSU "grundsätzlich offen zu kommunizieren". Der SPIEGEL habe "leider unvollständig" aus dem sechsseitigen Schreiben zitiert, gaben die Agenturen den Polizeisprecher wieder.
Ob die Berliner Polizei allerdings mit dem kompletten Wortlaut zufriedener ist, darf als fraglich gelten. Denn direkt nach dem vermeintlichen Angebot einer offenen Kommunikation wird solchen Überlegungen eine scharfe Absage erteilt: "Gleichwohl darf ich rechtliche Gegebenheiten, die beispielsweise in Beachtung einer Garantenpflicht gegenüber der ehemaligen 'VP' wesentliche Aspekte des Quellenschutzes berühren, nicht außer Acht lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint mir derzeit eine Offenlegung der angeforderten Akten nicht möglich."
Anschließend weist die Berliner Polizeiführung die Karlsruher Bundesanwälte in die Schranken: Es handele sich bei den angeforderten Akten ohnehin nicht um Dokumente eines Ermittlungsverfahrens - und selbst, wenn dem so wäre, stünde einer Übergabe der Schutz des Informanten entgegen.
Im Klartext: Die Berliner Polizei war fest entschlossen, ihren V-Mann um beinahe jeden Preis zu schützen, egal, ob es ein relevantes Ermittlungsverfahren gab oder ob es um den Ausschuss ging. Diese Position galt bis Mitte September, selbst dann noch, als der Untersuchungsausschuss im Juli in einem Beweisbeschluss ausdrücklich alle Erkenntnisse der Berliner Polizei zu Thomas S. anforderte. Das ist das Gegenteil von Offenheit. Deshalb führt die Äußerung des Polizeisprechers in die Irre.
Was stimmt, ist die Anmerkung, dass wir nicht vollständig zitiert haben. Das Schreiben ist sechs DIN-A4-Seiten lang, es hätte den Umfang des SPIEGEL-Artikels gesprengt, den Brief vollständig abzudrucken. Dies gilt nicht für den SPIEGELBlog, auf dem wir nun den kompletten Brief dokumentieren - auch deshalb, weil sich die Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus am Montag zu Recht darüber beschwerten, wie es sein könne, dass der SPIEGEL das Dokument kennt, nicht aber die zuständigen Parlamentarier. Möge jeder und jede selbst entscheiden, wie offen und kooperativ sich die Berliner Polizei in der V-Mann-Affäre verhalten hat. Der Senator wird sich ausführlich im Untersuchungsausschuss erklären müssen.
In der Geschichte berichten wir auch über die Festnahme eines per Haftbefehl gesuchten Helfers der "Mykonos"-Attentäter, die 1992 mehrere Exil-Kurden in Berlin erschossen hatten. Der entscheidende Hinweis stammte laut den geheimen Polizei-Akten von VP 562 alias Thomas S. Am Wochenende nun teilte die Polizei mit, es seien Akten verwechselt beziehungsweise falsch abgeheftet worden. Demnach habe Thomas S. nichts zu der Festnahme des "Mykonos"-Helfers beigetragen.
Wenn dem so ist, dann handelt es sich um mehr als nur ein paar falsch abgeheftete Blatt Papier. Die mehrere Hundert Seiten starke, als geheime Verschlusssache eingestufte VP-Akte, enthält zwei Vermerke, die jeweils auf den 11. Februar 2002 datiert sind. Einer ist von dem langjährigen V-Mann-Führer von Thomas S. unterschrieben, der andere von einem damaligen hochrangigen Staatsschutz-Mann des LKA Berlin. "Durch die VP 562", so heißt es übereinstimmend in beiden Vermerken, sei bekannt geworden, dass sich ein gewisser Mohammad A. neuerdings in Berlin aufhalte - jener Helfer der "Mykonos"-Attentäter, der kurz danach verhaftet wurde. Wieso VP 562, die bis dato dem LKA fast ausschließlich Hinweise aus dem Bereich des Rechtsextremismus geliefert hatte, plötzlich über einen Anschlag auf kurdische Oppositionelle in Berlin berichtete, wird in den Akten nicht thematisiert.
Der SPIEGEL war damals nicht dabei, als der "Mykonos"-Helfer aufgespürt wurde, und unser Versuch, mit Thomas S. selbst zu reden, schlug fehl. Handwerklich sauberer wäre es deshalb gewesen, an der fraglichen Stelle deutlich zu machen, dass dies kein eigenes Wissen ist, sondern aus den VP-Akten hervorgeht. Ob der Hinweis tatsächlich von Thomas S. stammt oder ob er ihm nur in gleich zwei Vermerken zugeschrieben wird, von denen einer von S.' langjährigem V-Mann-Führer unterschrieben ist, muss nun das Landeskriminalamt klären.
Wenn sich herausstellen sollte, dass die Berliner Polizei Angaben eines V-Manns einem anderen Informanten zugeschrieben hätte, dass Akten schlampig und unsauber geführt wurden - und das mit möglicherweise gravierenden Konsequenzen - dann wäre das eine weitere Facette dieser ohnehin schon sehr erklärungsbedürftigen Affäre.
Am Montag gestand der Sprecher der Polizei auf eine erneute SPIEGEL-Anfrage ein, dass es beim LKA offenbar zu einer fehlerhaften Aktenführung gekommen war. "Wir gehen nach derzeitigen Erkenntnissen davon aus, dass die Information über einen Helfer der Mykonos-Anschläge vom Landeskriminalamt damals einer falschen V-Person zugeordnet worden ist", sagte Stefan Redlich. Trotz dieses Fehlers habe man die Akte dem Ausschuss und den Abgeordneten des Landtags so vorgelegt, "wie wir sie vorgefunden haben".
Von Matthias Gebauer, Sven Röbel und Holger Stark