Karl Nolle, MdL

welt.de, 15:00 Uhr, 24.09.2012

Aufklärungspannen: Was in den MAD-Akten zum NSU-Terror fehlt

 
Sebastian Edathy, Chef des NSU-Ausschusses, kritisiert im Interview Pannen bei den Ermittlungen der Polizei und bei der Aufklärung der Mordserie. Mehrere Politiker sollen nun aussagen.
 
In der Debatte um den Umgang der Berliner Innenbehörde mit Informationen der ehemaligen V-Person Thomas S. sind weitere Merkwürdigkeiten aufgetaucht. Im Interview der "Welt am Sonntag" sagte der Ex-Informant, dass seine Berichte entgegen anders lautender Deutungen nicht eindeutig auf den Aufenthaltsort der Terrorzelle des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) hingewiesen hätten. Er sei damals selbst nicht "auf die Idee gekommen", dass hinter den Informationen eines Freundes ausgerechnet die drei NSU-Mitglieder stecken könnten.

Damit stellt sich verstärkt die Frage, warum der Innensenat in den vergangenen Monaten Informationen zu S. nicht an andere Sicherheitsbehörden und erst spät an den Untersuchungsausschuss des Bundestages weitergegeben hat. Zudem berichtet der "Spiegel" aus einem Brief des Berliner Staatsschutz-Chefs, der den Verdacht erhärten könnte, dass die Polizei Akten über Thomas S. zurückhalten wollte.

Gegenüber der "Welt am Sonntag" gab S. außerdem zu, der späteren Terrorzelle Sprengstoff besorgt zu haben. Im Gespräch mit der "Welt" kritisiert der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Bundestages, Sebastian Edathy (SPD) Pannen bei den Ermittlungen und der Aufklärung.

Die Welt: War der Umgang mit den Hinweisen von Thomas S. schlampig?

Sebastian Edathy: S. hat im Februar 2002 als V-Mann zwei Beamten des Landeskriminalamtes Berlin berichtet, er stünde in Kontakt zu einer Person, die ihrerseits in Kontakt zu drei wegen Waffen- und Sprengstoffbesitzes polizeilich gesuchten Personen aus Thüringen stünde. Da S. V-Mann im Bereich der rechtsextremen Szene war und damals die Haftbefehle noch gültig waren, wäre es ohne großen Aufwand möglich gewesen, seitens der Polizei festzustellen, dass es sich um das Trio aus Jena gehandelt haben dürfte.

Die Welt: Kanzlerin Angela Merkel hat gesagt, die Aufklärung der Ermittlungspannen rund um den NSU laufe aus Sicht der Regierung "an einigen Stellen nicht so, wir das für richtig halten". Was läuft schief?

Edathy: Ich erwarte, dass den angemessenen Worten der Kanzlerin bei der Trauerfeier für die Angehörigen der zehn Mordopfer im Februar auch handfeste Taten folgen. Das muss zuerst für die Regierung selber gelten, beispielsweise für die Informationspolitik ihres Kabinettsmitglieds Thomas de Maizière. Merkels Appell muss aber auch allen Bundesländern gelten, das schließt etwa den Berliner Innensenator Frank Henkel ein. Er sollte uns im Ausschuss sagen, warum wir nicht informiert wurden, dass der Beschuldigte Thomas S. V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes war. Und wir müssen prüfen, ob 2002 seinen Hinweisen auf das mit Haftbefehl gesuchte Trio von der Polizei nachgegangen wurde.

Die Welt: Warum kritisieren Sie Verteidigungsminister de Maizière in diesem Zusammenhang?

Edathy: Die Informationen des Verteidigungsministeriums zum Wehrdienstleistenden und späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos ließen Monate auf sich warten. Wir wussten nicht einmal, dass es einen Kontakt zwischen dem MAD und Mundlos gab. Und die nunmehr übermittelten Unterlagen sind ausgesprochen lückenhaft. Unser Ausschuss braucht aber zwingend vollständige Akten. Es ist schon viel Vertrauen in die Arbeit der Sicherheitsbehörden verloren gegangen. Unterlagen, die wir für die Aufklärungsarbeit brauchen, dürfen keinesfalls zurückgehalten werden.

Die Welt: Was fehlt denn in den Akten des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), der dem Verteidigungsministerium unterstellt ist?

Edathy: Es fehlt zum Beispiel Material über eine Durchsuchung des Spindes von Mundlos bei der Bundeswehr im Jahr 1994, die nach Angaben des Landes Thüringen wegen rechtsextremistischer Aktivitäten stattgefunden hat. Nicht belegt ist zudem, ob er den gegen ihn wegen einer rechtsextremen Straftat als Disziplinarmaßnahme verhängten Arrest wirklich ableistete. Ich verstehe auch überhaupt nicht, dass die Bundeswehr nicht bereits 1994 den MAD eingeschaltet haben soll, sondern angeblich erst ein Jahr später. Der Mann ist der Polizei 1994 zwei Mal als Rechtsextremist aufgefallen, in einem Fall wurde er zu einer Geldstrafe von 600 D-Mark verurteilt. Der MAD hat Wehrpflichtige in anderen Fällen wegen weit weniger gravierender Verfehlungen befragt. Da sehe ich noch sehr viel Klärungsbedarf.

Die Welt: Wegen der Ermittlungspannen beim NSU sind bereits vier Verfassungsschutzchefs in Bund und Ländern zurückgetreten. Politiker tragen keine Verantwortung?

Edathy: Der frühere bayerische Innenminister Beckstein war bereits bei uns im Ausschuss. Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Wochen beispielsweise auch die früheren Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU) als Zeugen zu uns kommen werden. Grundsätzlich wollen wir aber erst die Mitarbeiter von Verfassungsschutz, Polizei sowie Justiz anhören und danach die politischen Verantwortungsträger. Diese Reihenfolge ist sinnvoll.

Die Welt: Bis auf Schily hat bisher kein Politiker eingestanden, dass er wirklich Fehler gemacht hat. Er äußerte sich im April, sechseinhalb Jahre nach seinem Abschied als Bundesinnenminister, immerhin teilweise selbstkritisch. Müssen sich Politiker darüber hinaus nicht bei den Angehörigen der Opfer persönlich entschuldigen?

Edathy: Schily räumte ein, dass es ein schwer wiegender Irrtum war, schon kurz nach dem Kölner Nagelbombenanschlag des NSU im Juni 2004 einen terroristischen Hintergrund auszuschließen. Wie gering die Opfer geschätzt wurden, mussten ihre Familien leidvoll erleben. Es wurde hauptsächlich in Richtung Ausländerkriminalität ermittelt. Das war einer Sichtweise geschuldet, die bisweilen von Vorurteilen geprägt war. Es gibt aber zwei Grundversprechen, die der Rechtsstaat einlösen muss, wenn er Vertrauen erhalten will: Bürger vor Verbrechen schützen, egal wer sie sind. Und Verbrechen objektiv aufklären.

Die Welt: Können Sie die Enttäuschung vieler Hinterbliebener verstehen?

Edathy: Von den Angehörigen der Mordopfer und den Verletzten der Anschläge in Köln ist immer wieder zu hören, dass sie zwei Mal Opfer wurden. Das erste Mal bei dem Verbrechen, das zweite Mal bei den Ermittlungen der Polizei. Die Opferfamilien wurden jahrelang verdächtigt, etwas mit den Straftaten zu tun gehabt zu haben. Darum ist unser Ausschuss wichtig. Wir sind aus Gründen der demokratischen Selbstachtung zur Aufklärung verpflichtet. Und darauf haben auch diese Familien einen Anspruch. Es ist fatal, dass bei ihnen der Eindruck entstanden ist, die Behörden hätten erst nicht optimal nach den Tätern gefahndet und nun würden sie bei der Suche nach den Ermittlungsfehlern auch noch mauern.

Die Welt: Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat Merkwürdiges ans Licht gebracht. Die Polizei betrieb bei der Suche nach den Tätern selber einen Döner-Stand und suchte auch schon mal Rat bei Geisterbeschwörern. Was sagen Sie zu solch kuriosen Ermittlungsmethoden?

Edathy: Das Erschreckendste für mich ist, dass Teile der Sicherheitsbehörden mit einem vorurteilsbehafteten Bild an die Arbeit gegangen sind. Nachdem man einige Jahre nach den Morden feststellte, dass man mit den Nachforschungen im Umfeld der Opfer und auch bei den Familienangehörigen nicht weiterkam, vertrat man die Auffassung, dass türkischstämmige Mitbürger der Polizei in der Regel nicht die Wahrheit sagen würden. Das ist keine Spekulation, das findet sich so in den Akten. Die Folge war, dass man in Bayern zwei Polizeibeamte mit türkischer Familienbiografie losschickte, die sich als Privatdetektive aus der Türkei ausgeben mussten. Sie haben zwei Witwen von Mordopfern mitgeteilt, es sei eine hohe Belohnung ausgesetzt und vielleicht wüssten die Witwen doch mehr, als sie der Polizei gesagt hätten. Wenn ich so etwas in den Unterlagen lese, dann schäme ich mich als Bürger dieses Landes.

Die Welt: In dieser Woche befragt der Untersuchungsausschuss Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), der früher Landesinnenminister war. In Kassel wurde 2006 der Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat erschossen, während ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in dem Laden im Internet surfte. Was wollen Sie von Bouffier wissen?

Edathy: Den Akten zufolge gab es eine Kontroverse. Polizei und Staatsanwaltschaft wollten die vom damals mordverdächtigen Verfassungsschützer geführten V-Leute vernehmen, doch das Landesamt für Verfassungsschutz sperrte sich dagegen. Herr Bouffier hat sich in diesem Streit auf die Seite der Verfassungsschützer gestellt. Natürlich ist der Schutz eines Informanten ein sehr hohes Gut, und das Interesse, ihn nicht zu enttarnen, ist grundsätzlich berechtigt. Aber ich frage mich, ob es in einem Rechtsstaat sein kann, dass beides einen höheren Stellenwert hat als die Aufklärung eines Kapitalverbrechens. Wir reden über einen Mord und zudem über den neunten Mord einer Serie.

Die Welt: Was versprechen Sie sich von Bouffiers Befragung?

Edathy: Ich halte ich es für ein Gebot der Fairness, dass Herr Bouffier die Gelegenheit erhält, seine Sicht der Dinge darzulegen. Ich halte nichts von Vorverurteilungen. Für mich lautet die zentrale Frage, ob er es als Minister gebilligt hat, dass das Anliegen von Polizei und Staatsanwaltschaft abgelehnt wurde, Personen aus dem Umfeld eines damals Mordverdächtigen zu vernehmen. Im Ausschuss hat der Leiter der Mordkommission aus Hessen die Frage bejaht, ob er bei seinen Ermittlungen durch den damaligen hessischen Innenminister blockiert wurde. Ich möchte wissen, ob das tatsächlich so war.

Von Manuel Bewarder , Martin Lutz und Uwe Müller