Karl Nolle, MdL
Agenturen, dapd, 17:49 Uhr, 13.10.2012
Sachsens Verfassungsschutz doch näher dran am NSU-Trio - Ermittler wussten offenbar mehr als bislang bekannt - Linke fordert personelle Konsequenzen
Berlin/Dresden (dapd-lsc). Die Mitglieder der Zwickauer Neonazi-Zelle NSU und deren Umfeld waren offenbar deutlich länger im Visier des Verfassungsschutzes als bisher bekannt. Die sächsischen Sicherheitsbehörden hatten eine im Mai 2000 durchgeführte Abhörmaßnahme gegen die Rechtsextremisten unter dem Namen «Terzett» erst im November 2010 förmlich abgeschlossen. Das geht aus streng geheimen Akten hervor, wie die Zeitung «Die Welt» (Samstagausgabe) berichtet. Damit seien die NSU-Neonazis Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt noch ein Jahr vor ihrer Enttarnung als gefährlich eingestuft worden.
Die Sachsen beschrieben bereits in dem Antrag zu der Überwachung Struktur und Ziel des NSU überraschend genau. Die Zeitung zitiert aus den Akten: «Die Betroffenen stehen im Verdacht, Mitglieder einer Vereinigung zum Begehen von Straftaten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und schwerer rechtsextremistischer Straftaten zu sein und drei flüchtige Straftäter in der Illegalität zu unterstützen.»
G10-Maßnahme richtete sich gegen das Neonazi-Trio
Die sogenannte G10-Maßnahme richtete sich dem Bericht zufolge gegen das Neonazi-Trio sowie gegen die drei heute im NSU-Verfahren der Bundesanwaltschaft als Beschuldigte geführten Thomas S., Mandy S. und Jan W. Außerdem war der ehemalige Musikproduzent Andreas G. davon betroffen, der nicht zu den Beschuldigten gehört.
Die Unterlagen belegen laut «Welt», dass die sächsischen Verfassungsschützer über Jahre hinweg wiederholt Anhaltspunkte für ihren Verdacht sahen. Sie hätten beispielsweise 2006 die gesetzlich vorgeschriebene Benachrichtigung der Betroffenen abgelehnt. Der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes schickte damals dem Landesinnenministerium einen Vermerk: «Es soll keine Mitteilung erfolgen, weil es dadurch zur Gefährdung des Zweckes der Beschränkung käme.»
2009 gaben die Behörden schließlich die Hoffnung auf, das NSU-Trio noch zu finden. Mittlerweile sei keine Gefährdung des Zweckes der Maßnahme mehr zu erwarten, schrieb der Verfassungsschutz demnach im Mai 2009: «Sinn und Zweck der Gruppe ist durch Verjährung nicht mehr gegeben.» Im folgenden Oktober wurden die vier mutmaßlichen Unterstützer des Trios dann über die neun Jahre zurückliegende Abhörmaßnahme informiert.
Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sollten benachrichtigt werden
Auch Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sollten damals benachrichtigt werden. Zweimal, 2009 und 2010, fragten die sächsischen Verfassungsschützer bei den anderen 15 Landesämtern und dem Bundesamt nach und baten um Ermittlungen zur Feststellung der Aufenthaltsorte oder Wohnsitze der genannten Personen. Doch die Antwort lautete überall: Fehlanzeige. Die erfolglose Bilanz meldete der Verfassungsschutz dem Landesinnenministerium. Dies erklärte am 30. November 2010, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nicht benachrichtigt werden könnten. Die Abhörmaßnahme «Terzett» war damit abgeschlossen.
Die Rechtsextremismus-Expertin der Linksfraktion, Kerstin Köditz, erhob schwere Vorwürfe gegen die Landesregierung. Entweder habe Innenminister Markus Ulbig (CDU) alle zuständigen Gremien des Landtages bewusst und dauerhaft falsch informiert, sagte Köditz. Denn Ulbig habe stets gesagt, Sachsens Behörden hätten nach 2002 keinerlei Informationen über die drei Flüchtigen und deren Umfeld gehabt. «Oder aber das Innenministerium hat bewusst über einen sehr langen Zeitraum die G 10-Kommission des Landtages, die für die Kontrolle von Abhörmaßnahmen zuständig ist, getäuscht.» In beiden Fällen müsse es personelle Konsequenzen geben, forderte Köditz.
dapd/T2012101252073/arh/ddu/grk/mel
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