Karl Nolle, MdL

Welt am Sonntag, 23.12.2012

Sozialverband VdK, Ulrike Mascher: "Am Wohnraum zeigt sich die Spaltung der Gesellschaft"

 
In der City werden Wohnungen luxussaniert, während Geringverdiener immer weiter an die Ränder gedrängt werden, kritisiert VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.  Ein Expertengespräch über Ungerechtigkeit. Von Anette Dowideit

"Armut in Deutschland ist politisch gewollt"

Wenn man sich überzeugen wolle, dass die deutsche Gesellschaft zunehmend in Arm und Reich auseinanderdrifte, sei ein Spaziergang durch die Münchener Innenstadt genau richtig, sagt die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher. Kaum anderswo in Deutschland gibt es solch opulente Shoppingmeilen wie die Maximilianstraße, an der sich blondierte Damen in Fellmänteln und auf hochhackigen Schuhen durch den Schnee kämpfen. Kaum anderswo werden derart teure Luxusapartments gebaut – während die weniger wohlhabenden Münchner durch hohe Mietpreise immer weiter an die Ränder gedrängt werden. Aufsie selbst, sagt Mascher, habe Luxus kaum eine Wirkung.

Welt am Sonntag: Frau Mascher, hätten Sie Lust, sich hier auf der Maximilianstraße eine Luis-Vuitton-Handtasche zuzulegen – oder sind Sie frei von niederen Konsumwünschen?

Ulrike Mascher: Ich bin nicht frei von niederen Konsumwünschen grundsätzlich, aber eine Handtasche für mehrere Tausend Euro würde ich mir nicht kaufen. Da wüsste ich etwas Besseres mit dem Geld anzufangen.

Welt am Sonntag: Was denn?

Mascher: Ich gebe hemmungslos Geld aus für schöne Bildbände mit Fotografien, für Ausstellungskataloge oder Theaterkarten.

Welt am Sonntag: Gehen denn teure Luxusaccessoires für die Präsidentin eines Sozialverbandes nicht?

Mascher: Da käme ich mir schon komisch vor, wenn ich mit einer teuren Markentasche eine Pressekonferenz über Armut oder Erwerbsminderungsrente halten würde. Man wird ja schon ein Stück weit über solche Dinge identifiziert. Es gibt aber auch einfach Sachen, die mir wichtiger sind. Für eine Handtasche, die vielleicht nächstes Jahr schon aus der Mode ist – nein, also das ist es mir einfach nicht wert.

Welt am Sonntag: Was empfinden Sie, wenn Sie die Münchener Schickeria hier neben uns einkaufen sehen? Finden Sie das ungerecht?

Mascher: Ja. Wenn ich mir demgegenüber eine alleinerziehende Mutter vorstelle, die ihrem Kind ständig sagen muss: Wir können uns nicht leisten, in den Zoo zu gehen. Oder die dem Kind eine billige Winterjacke kaufen muss, die dann nicht die Farbe hat, die das Kind sich gewünscht hat. Wenn so eine Mutter sieht, dass hier in gewissen Läden eine Jacke mehr kostet als das, was sie im ganzen Monat verdient, kann ich mir vorstellen, dass sie bitter wird.(Bleibt stehen und deutet unauffällig in Richtung eines älteren Herrn, der eine leuchtend lilafarbene Steppjacke und offensichtlich teure Lederschuhe mit kleinem Absatz trägt. Mascher senkt die Stimme.) Schauen Sie mal, die feinen Schuhe, die er anhat, mit diesen feinen Schnallen! Da sieht man schon, dass hier Geld steckt.

Welt am Sonntag: Wird der Spalt zwischen Arm und Reich in Deutschland denn tatsächlich größer?

Mascher: Viele unserer Mitglieder empfinden das so. Gerade hier in München. Es gibt hier diese Haltung zu zeigen, was man sich leisten kann. In manchen Zeitungen gibt es Rubriken, wo die Eröffnung von neuen Kleider- oder Uhrenshops gefeiert wird, mit angeblichen Promis. Da fragt man sich schon: Muss das denn so nach außen zur Schau gestellt werden?

Welt am Sonntag: Wie sollte man Ihrer Meinung nach die Spaltung zwischen Arm und Reich bekämpfen?

Mascher: Wir haben heute einen Spitzensteuersatz, der um zehn Prozent niedriger liegt als zu Zeiten Helmut Kohls. Ich frage mich auch, warum es in Deutschland keine Vermögenssteuer gibt. Keine Bundesregierung der vergangenen Jahre hat sich damit ernsthaft beschäftigt. Das wäre nicht nur zu Umverteilungszwecken sinnvoll, sondern auch weil die Kommunen Geld brauchen, um zum Beispiel Kinder aus armen Familien besser fördern zu können. Es kann einfach nicht sein in einem reichen Land, dass es Schulen gibt, wo es durch die Decke regnet. Oder dass nicht jedes Kind ein warmes Mittagessen in der Schule bezahlt bekommt.

Am Platz gegenüber der Bayerischen Staatsoper steht ein Mann mit Hut, der offenbar stadtbekannt ist. Er hat lebendige Gänse dabei, die – vielleicht wegen der Kälte – laut schnattern. Der Mann spricht uns an und will eine Spende für Gänsefutter. Als die Reporterin antwortet, sie spende lieber für Menschen, beginnt er eine Schimpftirade: Man sei dumm, wenn man Menschen Geld spende, schließlich bekämen die ohnehin genug Geld vom Sozialstaat. Mascher hat keine Lust auf eine Diskussion und zieht die Reporterin weiter.

Welt am Sonntag: Was sollte man so jemandem entgegnen?

Mascher: Gar nichts!

Welt am Sonntag: Der Mann hat sinngemäß gesagt, in Deutschland müsse niemand arm sein. Was sagen Sie dazu?

Mascher: Es gibt Menschen – aber das ist zum Glück die Ausnahme –, die sind einfach dumm. Also sozial dumm, ignorant. Die erkennen nicht an, dass Not wirklich jeden treffen kann. Wenn man einen Schicksalsschlag hat, dann vielleicht noch einen, und dadurch völlig aus der Bahn geworfen wird. Viele glauben, dass das eigene, gute Leben nur der eigenen Tüchtigkeit zu verdanken ist. Und dass die, die nicht so gut leben, faul sind oder unfähig.

Welt am Sonntag: Nervt es Sie, dass viele Deutsche pünktlich zu Weihnachten ihr soziales Gewissen wiederentdecken?

Mascher: Das nervt mich überhaupt nicht. Es ist doch toll, wenn im Dezember Zeitungen Weihnachtsaktionen starten oder Verbände ein Weihnachtsessen für Obdachlose organisieren. Man muss nur klarmachen, dass die Betroffenen nicht nur im Dezember essen wollen.

Welt am Sonntag: Welche soziale Ungerechtigkeit hat Sie in diesem Jahr wütend gemacht?

Mascher: Die Berichterstattung über die Verlagerung von alten Pflegebedürftigen in osteuropäische Länder. Wenn ich mir vorstelle, dass ich plötzlich aufwache in einem Pflegeheim, dort noch nicht mal die Sprache identifizieren kann – ist es Ungarisch, ist es Slowakisch? – und niemand aus meinem Bekanntenkreis auch nur annährend in der Nähe ist, um mich zu besuchen, dann finde ich das schon eine bittere Vorstellung. Vor allem wenn diese Debatte stattfindet unter der Überschrift: Wir in Deutschland können uns teure Pflege nicht mehr leisten.

Welt am Sonntag: Der Fakt lässt sich aber nicht wegdiskutieren: Unsere Sozialsysteme drohen unter der Welle an Pflegebedürftigen zusammenzubrechen. Wir werden mit immer weniger Erwerbstätigen immer mehr Gebrechliche versorgen müssen.

Mascher: Wir haben aber immer noch einige Gruppen, die gar nicht oder nur teilweise arbeiten. Es gibt viele Frauen, die gerne in Vollzeit anstatt in Teilzeit arbeiten wollen. Wenn wir außerdem allen Jugendlichen einen ordentlichen Schulabschluss ermöglichen, mit dem sie später in einem erlernten Beruf Geld verdienen können, haben wir einen Teil des Problems gelöst. Heute verlassen noch immer fast sieben Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Schulabschluss. Wir gehen sehr leichtfertig mit den Kindern um, die hier überhaupt noch geboren werden.

Welt am Sonntag: Wie sollen die Frauen, die Sie ansprechen, all den Anforderungen gerecht werden? In Vollzeit arbeiten, Kinder erziehen, womöglich noch die eigene Mutter zu Hause pflegen?

Mascher: Es gibt ja nicht nur Töchter, die sich um ihre Mütter kümmern können, es gibt auch Söhne. Ich glaube, dass wir uns von den heutigen Arbeitsmodellen verabschieden müssen. Mir gefällt der Vorschlag von Jutta Allmendinger, die sagt, dass Männer und Frauen im Lebensdurchschnitt jeweils 32 Stunden die Woche arbeiten sollen. Und den Rest der Zeit nutzen für Kinder, für Pflege und für alles andere.

Welt am Sonntag: Finde ich auch schön, aber in der Realität wollen viele Arbeitgeber ja häufig keine Teilzeitkräfte.

Mascher: Ich glaube, die Einstellung der Unternehmen wird sich ändern, wenn der Druck größer wird. Gerade auf die gut ausgebildeten Frauen können die Firmen bald nicht mehr verzichten.

Welt am Sonntag: Wie gerecht finden Sie vor diesem Hintergrund das Betreuungsgeld?

Mascher: Ach ja. Das Geld könnte so viel besser in gute Kinderbetreuungseinrichtungen gesteckt werden, in das Gehalt von Erzieherinnen. Alle wissen doch, dass Kinder profitieren, wenn sie in einer Gemeinschaft mit anderen Kindern aufwachsen. Wir haben aber immer mehr Ein-Kind-Familien, wo die Kinder nicht automatisch lernen, wie man sich verträgt, wie man miteinander umgeht.(Bleibt stehen und deutet auf ein elegantes Wohnhaus.) Hier sehen Sie ein anderes Thema, das den VdK sehr beschäftigt: Dieses Haus mit Luxuswohnungen hat vor Kurzem eröffnet. Da haben die Wohnungen sogar einen Doorman.

Welt am Sonntag: Ja, und?

Mascher: Am Wohnraum zeigt sich doch die Spaltung der Gesellschaft: In Innenstadtlage werden Wohnungen luxussaniert, während die Leute mit den niedrigen Einkommen immer weiter an die Ränder der Stadt gedrängt werden. Wenn die Reichen sich abschotten in Häusern, die bewacht werden müssen, und ihre Kinder in Privatschulen schicken, dann finde ich das keine lebenswerte Zukunft. Wenn Arme und Reiche räumlich immer weiter voneinander getrennt sind, wundert es auch nicht, wenn viele Bessergestellte erfolgreich verdrängen, dass es Armut in der Bundesrepublik gibt.

Welt am Sonntag: Sie selbst können das in Ihrem Amt viel schlechter verdrängen als der Normalbürger. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie jeden Tag von schlimmen Schicksalen hören?

Mascher: Es gibt schon Schicksale, bei denen man erst einmal fassungslos ist und denkt: Das kann es doch gar nicht geben, dass ein Mensch so viel Unglück hat. Zum Beispiel stirbt erst der Mann, dann wird die überlebende Ehefrau schwer krank, und dann wird ihre Wohnung noch gekündigt. Da denke ich: Muss das jetzt sein? Zum Glück, denke ich dann, gibt es Anlaufstellen, die helfen oder auch nur zuhören – sei es der VdK, seien es Wohlfahrtsverbände oder auch Mitarbeiter der Stadt.

Welt am Sonntag: Gehen Sie manchmal abends unglücklich ins Bett, wenn Sie an einem Tag zu viel Schlimmes gehört haben?

Mascher: Nein. Es ist schon belastend, aber ich bekomme den Kopf wieder frei, wenn ich im Sommer auf mein Fahrrad steige – oder jetzt im Schnee spazieren gehe oder Tee trinke und ein Buch lese.