Karl Nolle, MdL

Die Welt, 15.05.2001

Biedenkopfs langer Abschied

Kommentar von Johann Michael Möller
 
DRESDEN. Wie sehr der Autoritätsverlust von Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf voranschreitet, zeigt sich daran, wie im Wochenrhythmus neue Vorwürfe bekannt werden. Da stolpert ein Autokrat und plötzlich schreien alle: Steiniget ihn. Das Tragische daran ist nur, dass die Steine zuhauf herumliegen. Koch, Putzfrau, Dienstwohnung, Gratisurlaub -die Liste der vielen Fragwürdigkeiten wird immer länger. Bei aller Schadenfreude derer, die Biedenkopf, bis heute nicht das Wässer reichen können - und diese Liste ist lang -, fehlt doch bisher jede zureichende Erklärung, warum Sachsens Ministerpräsident sich einen solchen Abgang bereitet. Fast fühlt man sich an das alte talmudische Wort erinnert, wonach es zwar nicht möglich sei, das Werk zu vollenden, aber eben auch nicht erlaubt, das Werk zu verlassen.

Bei Biedenkopf fällt eine Form des Beharrungsvermögens auf, die weder mit Machtbesessenheit noch mit Realitätsverlust zu erklären ist. Gewiss, an dem Phänomen „König Kurt" sind viele Umstände schuld: die persönliche Disposition, das Umfeld von Ja-Sagern und die bizarre Rolle von Frau Ingrid - aber eben auch der Aufbau im Osten. Viele, die dort bis zum Hals in Problemen steckten, haben die westdeutschen Bedenkenträger verfluchen gelernt, die ihnen zwar Verwaltungsvorschriften, aber selten Lösungen präsentierten. Das hat die Maßstäbe verrutschen lassen, auch gegenüber der eigenen Person. Denn auch ein Ministerpräsident, der rackert, darf sich nicht dem Verdacht der Vorteilsnahme aussetzen.

Biedenkopf ist dem Ausnahmezustand Ost aber noch in einer anderen Form erlegen. Er hat sein Amt als pädagogische Aufgabe verstanden, als Erziehungsauftrag. Aber er hat es darüber versäumt, seine Zöglinge in die Freiheit zu entlassen. Und die nehmen das jetzt selbst in die Hand. Die ersten, die aufmuckten, wie Arnold Vaatz, konnte Biedenkopf noch kaltstellen. Doch jetzt ist ihm die Regelung seiner Nachfolge entglitten. Ihn vom Sockel zu schieben reicht die Kraft offenbar nicht, also beginnen seine großgewordenen Gegner, ihn von den Rändern her zu beschädigen, Das kann noch lange so gehen und erinnert an den siechen Kammerherrn in Rilkes Malte Laurids Brigge, der sich brüllend durch seine Gemächer tragen lässt, bis das Ende dann endlich gekommen ist. Seinen Schlusspunkt will Biedenkopf selber setzen. Das Recht hat er.