Karl Nolle, MdL
spiegel online, 15. Dezember 2007, 11:55 Uhr, 27.06.2015
Sozialdemokratisches Pionierland - Als Sachsen rot war
Bei acht Prozent liegt die SPD laut Umfragen in Sachsen - noch hinter der NPD. Dabei war hier einmal das Kernland der Partei, wo Sozialdemokratie keine Haltung sondern eine Lebensweise war. Franz Walter über eine Zeit, in der zehn von elf Spielern der Arbeiter-Fußballnationalmannschaft aus Dresden und Leipzig kamen.
Man erinnert sich kaum noch. Doch wenige Wochen vor den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 - bekanntlich die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte der DDR überhaupt - erwarteten die meisten politischen Beobachter einen fulminanten Wahlsieg der Sozialdemokraten. Die absolute Mehrheit für die SPD schien keineswegs unmöglich. Zumindest geisterten Prognosen solcher Art in jenen Wochen grell durch die Schlagzeilen. Von einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit der SPD in einem künftig vereinigten Deutschland war gar in manchen Kommentaren die Rede. So schwelgten Politiker und Anhänger der SPD in kühnsten Hoffnungen, während einige Strategen der Unionsparteien fürchteten, in einem neuen Deutschland auf lange Zeit ins Abseits zu geraten.
Denn schließlich war das Gebiet, auf dem die Einheitskommunisten der SED 1949 die DDR begründete hatten, historisch gleichsam sozialdemokratischer Mutterboden. Auf diesem Terrain lagen in den Jahrzehnten vor den beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhundert die Zentren der SPD in Deutschland schlechthin. Von den 1950er bis zu den 1980er Jahren waren sich deshalb Historiker, Politikwissenschaftler, Publizisten und wohl auch die meisten Politiker weitgehend darüber einig gewesen, dass die SPD parteipolitisch der Hauptverlierer der deutschen Teilung war, im Falle einer Wiedervereinigung dafür wohl den größten Nutzen ziehen würde. Mit dem zeittypischen Pathos der frühen fünfziger Jahre hatte dies damals der Bundestagsabgeordnete und spätere Fraktionsvorsitzende der SPD Fritz Erler in die einprägsame Metapher erfasst: "Die Sozialdemokratie atmet nur auf einem Lungenflügel, solange ihre Hochburgen in Mitteldeutschland nicht wieder in Freiheit am Leben der Partei beteiligt sind."
Sozialdemokratischer Lungenschaden
35 Jahre nach diesem Ausspruch konnten Sozialdemokraten wieder frei im früheren Mitteldeutschland agieren. Aber die Lunge war nicht mehr intakt. Sachsen ist daher auch im 18. Jahr nach dem Fall der Mauer eine sozialdemokratische Diasporalandschaft. Bei den letzten Landtagswahlen im Jahr 2004 erzielte die Sozialdemokratie - die dort zu Beginn der Weimarer Republik fast 60 Prozent erreichte - nur noch 9,8 Prozent der Stimmen. Anfang September 2007 maßen die Demoskopen gar einen Wert von 8 Prozent, womit sie noch unterhalb des Niveaus der NPD lag.
Ohne Tragik ist das für die SPD nicht. Schließlich war gerade Sachsen fast ein ganzes Jahrhundert lang Pionierboden und Hochburg einer genuinen sozialdemokratischen Alltagskultur. Nirgendwo sonst im deutschen Reich war das Netz des sozialdemokratischen Arbeitervereinswesens so dicht geflochten und weit gespannt wie zwischen Zittau und Plauen. Hier - und wahrscheinlich umfassend wirklich nur hier, in dieser Region - wuchs man bereits als Arbeiterkind über die Organisation der "Kinderfreunde" in die sozialdemokratischen Solidargemeinschaft hinein, wurde dort durch die Teilnahme am Arbeitergesang, Arbeitersport, Arbeiterwohlfahrtswesen, durch Einkauf in der Konsumgenossenschaft, durch die Geselligkeit im Volkshaus biographisch nachhaltig geformt, bis schließlich nach dem Tode die Freidenkerorganisation für die "rote" Einäscherung der treuen Genossen sorgte.
Von den sozialistischen Lebensreformern bis zu den organisierten Arbeiterjugendlichen - die Zentren all dieser Arbeitervereinskulturen lagen in Sachsen. Als Anfang 1926 die elf besten Arbeiterfußballer des Deutschen Reichs ein Länderspiel gegen die Tschechen austrugen - und 3:1 gewannen -, da setzte sich die proletarische Nationalmannschaft der Deutschen bezeichnenderweise aus zehn Sachsen zusammen; sechs kamen allein aus Leipzig. Nur bei der Besetzung des rechten Verteidigerpostens holten sich die Sachsen Unterstützung aus Franken.
Kickende Proletarier
Natürlich beheimatete Sachsen die beiden größten Arbeiterfußballbezirke Deutschlands: Leipzig mit 7000 und Dresden mit 6000 Mitgliedern. Dort spielten die beiden wohl berühmtesten Vereine des Arbeiterfußballsports der zwanziger Jahre: Der VFL Südost-Leipzig-Stötteritz und der Dresdener Sportverein 1910. Vor allem aber bot Sachsen den sozialkulturell günstigsten Boden für die sozialistische Lebensreform. Sozialistische Abstinenzler, Nudisten und Naturheilapostel aller Schattierungen fanden mit ihren asketischen Umkehr- und Erweckungsphilosophien im protestantischen Sachsen Resonanz wie nirgendwo sonst im Deutschen Reich, besonders nicht in dessen katholischen Regionen.
Beliebt war insbesondere in Ostsachsen der sozialdemokratische "Verband Volksgesundheit" dessen Mitglieder Schulmedizin und Chemie ablehnten, stattdessen auf die natürlichen Heilfaktoren Luft, Licht und Wasser schworen. Die Popularität des Verbandes in der Gegend um Dresden rührte vor allem daher, dass er dort Freiluftgelände, Badeanstalten und Schrebergärten mit kleinen Häuschen angelegt hatte, die vor allem an sonnigen Wochenenden zehntausende von sächsischen Arbeiterfamilien anlockten und zu Spiel, Sport und anderen Vergnügungen animierten.
Grundbesitz erworben und Sportstätten geschaffen hatten auch und in erster Linie die Vereine des Arbeiter-, Turn - und Sportbundes (ATSB) - und dies nirgendwo in einem solchen Umfang wie eben in Sachsen. Im Laufe der Jahre hatten die sächsischen Arbeiterturner mit eigenen Mitteln 115 Turnhallen, 198 Sport- und Turnplätze mit Vereinshäusern, 20 Bootshäuser und auch eine Sprungschanze errichtet. Die Zentrale des ATSB hatte ihren Sitz ebenfalls in Sachsen, genauer: In Leipzig. Dort eröffnete der Arbeitersportbund 1926 zudem eine große Bundesschule, bald das Glanzstück sozialdemokratischer Arbeiterkultur schlechthin, in der Vortragssäle, Turnhallen, ein Lehrschwimmbecken und andere Übungsräume untergebracht waren. In dieser Schule unterrichteten mehrere hauptamtlich eingestellte Lehrer, die Arbeiterfreizeitsportler in oft mehrwöchigen Kursen über Regeln und Trainingsmethoden des Männer - und Frauenturnens, des Fußballs und Wassersports sowie Techniken der Vereinsorganisation. Auch andere Renommierstätten sozialdemokratischer Vereinskultur standen auf sächsischem Boden. Dazu zählte das größte Volkshaus, das die Arbeiterbewegung hervorgebracht hat, das Volkshaus in Leipzig. Dazu gehörte ebenso das wuchtig gebaute und großzügig ausgestattete Bundeshaus der Arbeitersamariter, das 1928 in Chemnitz eingeweiht wurde.
Auch die Gebirgsdörfer waren rot
Wieso nun entfaltete sich ausgerechnet in Sachsen vor 1933 eine so außergewöhnlich umfängliche und bis dahin einzigartig stabile sozialdemokratische Vereinskultur? Sicher primär: Sachsen war Mitte des 19. Jahrhunderts das Pionierland der Deutschen Industrialisierung. Hier expandierten besonders die verarbeitenden Industrien der Branchen Textil, Holz, Papier, Metall und Maschinenbau. Wichtig war schließlich auch, dass sich die sächsische Industrie nicht nur auf wenige großstädtische Zentren beschränkte, sondern bis in die ländlichen Gemeinden hineinragte. In Sachsen war die Industrie seit dem späten 19. Jahrhundert auch für die Menschen der kleineren Städte zur vorherrschenden, für viele zur alleinigen Erwerbsquelle geworden. Durch diese absolute Dominanz der industriellen Produktion und proletarischen Existenz in den Arbeiterquartieren der sächsischen Gemeinden konservierten sich keine ländlich-agrarischen Mentalitäten oder kleinbürgerlichen Besitzinteressen wie etwa im Südwesten des Deutschen Reichs, wo zahlreiche Arbeiter zwar in der Fabrik arbeiteten, jedoch im Dorf wohnten und nebenbei ein wenig Landwirtschaft betrieben - solche Arbeiterschichten verschlossen sich dann mehrheitlich dem Werben der Sozialdemokraten.
Dass sich in Sachsen ein komplex verknotetes Arbeitervereinsmilieu herausbilden konnte, lag schließlich auch in der Raum- und Bevölkerungsstruktur des Landes begründet. Acht Prozent der Deutschen Bevölkerung wohnten in Sachsen, auf einem Gebiet, das indes nur 3,2 Prozent der Deutschen Gesamtfläche umfasste. Kurz: Sachsen gehörte zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Europas, und diese dichte Besiedlung war charakteristisch nicht nur für die größeren Städte, sondern auch für die ländlichen und gebirgigen Regionen. Diese Dichte ermöglichte es, dass sich ein kommunikativ und organisatorisch geschlossenes Milieu an der sozialdemokratischen Partei- und Vereinsbasis herausbilden konnte. Im Unterschied zu großen und weiträumigen Flächenländern, wie etwa Württemberg, war es den Sozialdemokraten in Sachsen infolgedessen materiell und organisatorisch vergleichsweise leicht möglich, das Netz ihrer Vereine und Strukturen bis in die Gebirgsdörfer auszuwerfen, eine Vielzahl von regionalen Bildungs- und Kulturveranstaltungen zu initiieren und ungewöhnlich viele Parteitage abzuhalten.
Über die Parteienpräferenz einer Region entscheidet allerdings nicht nur die erwerbs- und Siedlungsstruktur, sondern mehr noch die Konfessionsgliederung. Dies gilt bis heute. Die Sozialdemokratie ist im Grunde seit ihrer Entstehung die Partei der protestantischen Landesteile. Protestantisch und industriell - das lief in aller Regel auf eine starke SPD hinaus, während ein Übergewicht von Katholiken in Industriezentren den Ausdehnungsmöglichkeiten der SPD enge Grenzen setzte. Sachsen nun war erstens hochindustrialisiert und stand zweitens in nahezu einhelliger protestantischer Tradition. Für die sozialdemokratischen Organisationsbemühungen bedeutete dies eine optimale Konstellation, da die protestantische Kirche im Unterschied zum stärker volkstümlichen Kaplanskatholizismus die Brisanz der sozialen Frage nicht begriffen und die Arbeiter in ihrer sozialen Misere in den rasch angewachsenen Städten des 19.Jahrhunderts allein gelassen hatte. Hierdurch entstand ein Organisations- und Sinnvakuum in den protestantischen Industrieregionen, welche die Sozialdemokratie mit ihren Vereinsangeboten und programmatischen Deutungshilfen auszufüllen verstand.
Am Ende politisch isoliert
Die SPD in Sachsen forcierte die Entkonfessionalisierung gar mit aller Energie. Keine andere Landesorganisation der SPD verfocht in den Weimarer Jahren eine derart aggressiv anti-kirchliche Strategie wie die Sozialdemokraten in Sachsen. Der Kirchenkampf war gleichsam Treibstoff der damaligen sächsischen SPD-Politik. Zwischen 1918 und 1923 war sozialdemokratische Regierungspolitik in Sachsen vor allem Kulturpolitik, genauer noch: Eine Politik der Verweltlichung, des Zurückdrängens kirchlicher Einflüsse insbesondere in den Schulen. Die sozialdemokratischen Minister beseitigten den Bußtag, setzten dafür den 1. Mai und den 9. November als gesetzliche Feiertage fest, und sie verboten das Schulgebet. Den Religionsunterricht stellten sie zur Disposition.
Die sozialdemokratische Alternative dazu war: Die Jugendweihe. Indes fällt es schwer, diesen Jugendweihen aus der Rückschau allzu viel Positives abzugewinnen. Insgesamt erinnerte das schwülstige Pathos und der Bekenntnisdrang, mit dem die Jugendlichen durch die Weihe zeremoniell in die sozialistische Gemeinde aufgenommen wurden, eher an die Liturgie und die Rituale weltanschaulich geschlossener Sekten, nicht aber an ein wirklich weltlich-nüchternes Politikverständnis einer offen republikanischen Partei.
Natürlich und zusammen: Die mitteldeutsche Arbeitervereinskultur hatte den sozialdemokratischen Arbeiter in den turbulenten Zeiten der Weimarer Republik, als etliche Menschen an ihren alten Bindungen und überlieferten Identitäten irre wurden und sich in die Arme der Nationalsozialisten flüchteten, Halt, Orientierungen, Zuversicht, Heimat und Wärme vermittelt. Dennoch: auch die negativen Folgen waren nicht zu übersehen. Oft genug verschanzte sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zwischen dem Elbtal und dem Vogtland in ihrem Organisationsnetzwerk, richtete sich defensiv in der geistig autarken Wagenburg ein, nahm die äußere Umwelt nur einseitig und verzerrt wahr, lebte mithin in einer ideologisch einförmigen Abkapselung. Die Sozialdemokraten der Weimarer Zeit verinselten sich dadurch und isolierten sich. Am Ende standen sie politisch allein - und versanken in ihrer ursprünglichen Kernregion nahezu im Nichts.