Karl Nolle, MdL
welt.de, 26.08.2015
Rechte Hetze - Warum Sachsen ein Nährboden für Fremdenhass ist
Selbstbezogenheit, schwache Diskussionskultur und braune Tradition: Der Chef der Landeszentrale für politische Bildung verlangt deutlichere Worte gegen die rechte Hetze – und setzt dennoch auf Dialog.
Frank Richter ist Theologe und Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Dresden. Weil der gebürtige Meißener der Pegida-Führung Anfang des Jahres in seinem Haus Räumlichkeiten für eine Pressekonferenz zur Verfügung stellte, hagelte es heftige Kritik.
Die Welt: Freital, Meißen und zuletzt Heidenau – diese sächsischen Orte stehen für gewalttätige Proteste gegen Flüchtlinge. Sie sind Sachse. Was empfinden Sie angesichts dieser Übergriffe?
Frank Richter: Manchmal fühle ich mich unwohl in Sachsen. Doch ich liebe dieses Land. Für Politik und Gesellschaft scheint es fünf nach zwölf, sich den gewaltbereiten Extremisten und Hooligans entgegenzustellen. Der sich verdichtende Eindruck, die Flüchtlingsproblematik komme wie ein Naturereignis über uns und die Politik hätte kein Konzept, spielt den Rechtsextremen in die Hände.
Die Welt: Was erwarten Sie jetzt von der Politik?
Richter: Aus unseren Erfahrungen in der Bildungsarbeit wissen wir. Es sollte deutlicher erklärt werden, dass es die humanitäre Verpflichtung der Bundesrepublik ist, Flüchtlinge aufzunehmen, und dass dies unser Selbstverständnis verlangt. Flucht und Asyl sind eine politische Gestaltungsaufgabe, und zwar auf allen Ebenen: Europa, Bund, Länder und Kommunen.
Die Welt: Was hat die Politik versäumt?
Richter: Es ist nicht meine Aufgabe, politische Zensuren zu verteilen. Ich finde, es wird viel zu zögerlich und zu defensiv kommuniziert. Ich wünsche mir deutlichere Worte dazu, dass es keine rechtsfreien Räume gibt, weder im Internet noch auf der Straße, dass es nicht angeht, gegen Flüchtlinge zu hetzen. Die direkten Angriffe auf Polizisten haben mich erschüttert.
Die Welt: Warum ist in Sachsen die Fremdenfeindlichkeit so groß?
Richter: Dafür, dass die Fremdenfeindlichkeit in Sachsen so deutlich zutage tritt, gibt es mehrere Gründe. Das Land leidet seit Jahren unter einer hohen rechtsextremistischen Belastungsquote. Bei der letzten Landtagswahl hat die NPD mit 4,95 Prozent nur knapp den Wiedereinzug in den Landtag verpasst. Zehntausende Menschen haben diese Partei gewählt, und das zum dritten Mal in Folge.
Es gibt ein dichtes Netz an sogenannten freien Kameradschaften. Die rechtsextreme Konzertszene ist in Sachsen sehr aktiv. Junge Leute werden mit extremistischem Gedankengut infiziert. Es gibt spezielle Szeneläden.
Welt: Wieso konnte die rechtsextreme Szene im Vergleich zu anderen Bundesländern in Sachsen so stark werden?
Richter: Auch dafür gibt es natürlich mehrere Gründe. Die NPD hat Mitte der 90er-Jahre begonnen, in Sachsen zu investieren. In der Auswahl von Kandidaten für Gemeinderäte, Kreistage und den Landtag setzte man dabei gerade nicht auf Personen, die dem Klischee des "Nazis ins Springerstiefeln" entsprachen. Der rechtsextreme Verlag Deutsche Stimme zog aus Bayern ins sächsische Riesa.
"Der Brand war vorauszusehen"
Eine geplante Flüchtlingsunterkunft ist in Nauen komplett abgebrannt. Die Behörden gehen von Brandstiftung aus. Ein Besuch in der Stadt in Brandenburg zeigt, welche Basis Ausländerhass dort hat.
Quelle: Die Welt
Die Welt: Gibt es in Sachsen einen besonderen Nährboden für das rechtsextreme Gedankengut?
Richter: Dieses ist sicher nicht nur importiert. Historiker verweisen darauf, dass Sachsen in den 30er-Jahren eine nationalsozialistische Hochburg war. Dresden hatte – ähnlich wie Breslau – einen sehr hohen Anteil an NSDAP-Wählern. Der Einfluss der Nazis und der nationalsozialistischen Ideologie in der sächsischen Kirche war erschreckend groß.
Die Welt: Sie müssen also weit zurückgehen, um die Fremdenfeindlichkeit der Sachsen zu erklären?
Richter: Nicht nur. Es gibt auch heute begünstigende Faktoren, die per se nicht nur negativ zu bewerten sind. Die Sachsen haben ein großes Selbstbewusstsein. Sie sind stolz auf ihre Tradition und Kultur. Sie definieren sich immer auch ein wenig gegen die Zentrale. Die Rivalität zu Preußen ist sprichwörtlich. Das, was belehrend aus Berlin kam, war besonders während der DDR-Zeit suspekt. In der Phase des Untergangs der DDR tauchten zuerst die Sachsenfahnen auf, die Deutschlandfahnen kamen später.
Die Welt: Gab es schon zu DDR-Zeiten rechtsextremistische Strömungen in Sachsen?
Richter: Nun, ich bin an einem 20. April geboren. Ich kann mich sehr gut erinnern, dass ab der Mitte der 80er-Jahre an diesem Tag und in der Nähe meines elterlichen Hauses heimliche Partys stattgefunden haben, auf denen auch entsprechende Lieder ertönten. Ob die rechtsextreme Subkultur in Sachsen stärker ausgeprägt war als in anderen Teilen der DDR, kann ich nicht sagen.
Die Sachsen sind nicht schlechter als andere Menschen. Viele haben Mitgefühl mit den Flüchtlingen und helfen, wo sie können.
Die Welt: Aber die Rechtsextremen, die heute vor den Asylbewerberheimen protestieren, haben die DDR gar nicht mehr erlebt. Warum ist auch die jüngere Generation anfällig für das rechtsextreme Gedankengut?
Richter: Die DDR hat sich als antifaschistischer Staat definiert. Der Nationalsozialismus wurde als große Katastrophe der deutschen Geschichte dem Kapitalismus und Imperialismus zugeordnet. Und damit hatten die Deutschen in der DDR per Definitionem nichts zu tun. Eine ehrliche und offene und persönliche Aufarbeitung der schuldhaften Verstrickungen in der Nazizeit hat es nicht gegeben, jedenfalls nicht in meiner Umgebung. Es wurde viel geschwiegen und wenig darüber gesprochen.
Dieses kommunikative Gedächtnis wird von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die Gesprächs- und Diskussionskultur, die eine offene Gesellschaft auszeichnet, ist schwach ausgeprägt. Das spielt den Rechtsextremen in die Hände. Die Abwehr des Fremden sichert vermeintlich die schwach ausgeprägte Identität, die ihrerseits mit mangelnder Geschichtsaufarbeitung zu tun hat.
Die Welt: Aber auch in Sachsen engagieren sich viele Menschen für die Flüchtlinge.
Richter: Die Sachsen sind nicht schlechter als andere Menschen. Viele haben Mitgefühl mit den Flüchtlingen und helfen, wo sie können. Dieses Mitgefühl sollte abgerufen werden. Es gibt viele Städte und Landkreise in Sachsen, wo Bürgermeister, Landräte und andere politisch Verantwortliche das Thema Asyl zur Chefsache erklären, offensiv kommunizieren, nichts schönreden und klare Grenzlinien zu Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus ziehen.
Wenn allerdings ein Landrat nach dem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim öffentlich erklärt, er könne keine rechtsextremistischen Umtriebe erkennen, wird es schwierig. Ich schäme mich, dass es ausgerechnet in meiner Heimatregion, im Landkreis Meißen, so viel offen zur Schau gestellte Fremdenfeindlichkeit gibt.
Der Flüchtlingsstrom Richtung Westeuropa ist gleichzeitig auch ein Riesengeschäft. Ob Lebensmittelhändler, Busunternehmer oder Taxifahrer - viele versuchen zu profitieren und zu verdienen.
Die Welt: Warum gelingt es in Dresden und Umgebung nicht, mehr Mitgefühl der Menschen für die Flüchtlinge zu mobilisieren?
Richter: "Dresden ist die Kulturstadt mit dem größten Tellerrand", an diesem Spruch ist was dran, oder? Soll sagen: Hier herrscht zu viel Selbstbezogenheit. Die Stadt ist politisch konservativ grundiert. In Leipzig ist das anders. Leipzig ist eine Stadt des Handels, der Messe, schon zu DDR-Zeiten vergleichsweise weltoffen und für Ostverhältnisse auch heute erstaunlich multikulti. Das prägt das Klima. Rechtspopulistische, -extremistische und nationalkonservative Positionen greifen in Dresden besser als in Leipzig. Auch die Pegida-Bewegung begann als ein Dresdner Phänomen.
Die Welt: Sie haben viel Verständnis für Pegida gezeigt und im Januar sogar einen Raum in der Landeszentrale für eine Pressekonferenz zur Verfügung gestellt. Bereuen Sie das heute?
Richter: Das war kurz nach den Anschlägen auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion in Paris. Die Stimmung war angespannt. Es gab offiziell bestätigte Anschlagsdrohungen. Die Pegida-Führung wollte den geplanten "Abendspaziergang" absagen. Ich wurde darum gebeten, Räume zur Verfügung zu stellen. Nach der vergeblichen Suche nach Alternativen habe ich entschieden, dass die Pressekonferenz in den Räumen der Landeszentrale ausnahmsweise stattfinden kann. Unter den gegebenen Umständen würde ich heute wieder so entscheiden. Der Auftritt hatte auch eine demaskierende und entmystifizierende Wirkung.
(Für diese Entscheidung steckte Richter auch viel Kritik ein: Im Januar stellte er die Räumlichkeiten der Zentrale für politische Bildung für eine Pressekonferenz der Pegida-Bewegung zur Verfügung, neben ihm die damaligen Initiatoren Lutz Bachmann und Kathrin Oertel
Für diese Entscheidung steckte Richter auch viel Kritik ein: Im Januar stellte er die Räumlichkeiten der Zentrale für politische Bildung für eine Pressekonferenz der Pegida-Bewegung zur Verfügung, neben ihm die damaligen Initiatoren Lutz Bachmann und Kathrin Oertel)
Die Welt: Stört es Sie, Pegida-Versteher genannt zu werden?
Richter: Eines der schönsten Verben der deutschen Sprache, nämlich das Wort "verstehen", ist ein Schimpfwort geworden. Schade. Verstehen heißt nicht akzeptieren. Verstehen zu wollen, ist die Voraussetzung für den vernünftigen Diskurs. Ansonsten gibt es nur Konfrontation. Wohin das führt, sehen wir in mancher Talkshow. Wenn Opposition nur als Konfrontation wahrgenommen und betrieben wird, missverstehen wir dieses Konstruktionsmerkmal unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, fördern wir die Politikverdrossenheit.
Die Welt: Da spricht der Theologe. Sie wollen versöhnen?
Richter: Ich habe das Anliegen, den Dialog so lange wie möglich in Gang zu halten. Empörung und Widerstand sind notwendig. Manchmal müssen sie auch organisiert werden. Aber Empörung allein führt nicht weiter. Sie muss ergänzt werden durch den Versuch, Menschen für den Diskurs zu gewinnen und Verständnis zu wecken.
Die Welt: Auch für Pegida?
Richter: Pegida im Spätherbst 2014 war auch eine gewaltige Politisierung. Wann haben sich in den vergangenen 25 Jahren so viele Menschen derart politisiert? Das geschah nicht unbedingt so, wie wir uns das in der repräsentativen Demokratie wünschen.
Aber die Menschen haben auch vernünftige Fragen gestellt, zum Beispiel die nach dem Zusammenhang von Rüstungsexporten, Kriegen und Flüchtlingsbewegungen. In Mails und Briefen haben sich ungefähr 500 Personen, die mehrheitlich mit Pegida sympathisierten, auch an die Landeszentrale gewendet. Wir haben geantwortet, diese Korrespondenz anonymisiert und werten sie derzeit wissenschaftlich aus.
Die Welt: Zu welchem Schluss kommen Sie?
Richter: Der Konflikt ist der Normalfall der Demokratie. Er kann immer auch eine Chance sein. Wenn wir ihn fair austragen, kann die ganze Gesellschaft gewinnen.