Karl Nolle, MdL
Spiegel 33/2018., 10.08.2018
Zur linken Sammlungsbewegung - Das Problem sind nur die Gründer
Es war höchste Zeit für eine linke Sammlungsbewegung. Doch wie ausgerechnet Sahra Wagenknecht ein neues Gemeinschaftsgefühl erzeugen will, bleibt ihr Geheimnis.
Kommentar von Markus Feldenkirchen
Den asozialsten und unsolidarischsten Umgang miteinander pflegen in Deutschland traditionell jene Kräfte, deren Ziel eine soziale und solidarische Gesellschaft ist. In diesem Widerspruch liegt die große Tragik der politischen Linken im Lande. Ihre notorische Neigung zur Selbstzerfleischung, ihr Hang zur Rechthaberei und zur Haarspalterei war über die Epochen hinweg eine Art Lebensversicherung für konservative Kräfte in Deutschland. Sie hätten seltener regiert, wenn sich die Linke nicht so häufig darüber zerstritten hätte, welcher der richtigen Wege nun der allerrichtigste ist.
Schon 1917 spalteten sich mehr als hunderttausend Genossen von der SPD ab und gründeten die "Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands". Alles, "was an energischen Leuten noch vorhanden ist", neige nun der USPD zu, klagte der große Sozialdemokrat Otto Wels kurz nach Gründung der Konkurrenz. Zwar blieb die USPD ohne nachhaltigen Erfolg, auch weil sie selbst Opfer von Abspaltungen wurde. Die Zersplitterung der politischen Linken aber hatte zur Folge, dass sie zu Weimarer Zeiten nicht jene starke politische Einheit wurde, die es gebraucht hätte, um den demokratiefeindlichen Kräften energisch entgegenzutreten.
Als Deutschland doch noch demokratisch wurde, dauerte es eine Weile, ehe die Linke ihre Tradition fortsetzte, sich selbst mit Neugründungen und Abspaltungen zu schwächen. Zunächst machten die Grünen der SPD Konkurrenz, später lockte die Linke viele Sozialdemokraten in ihre Reihen. Und so gab es seit Gerhard Schröders Abgang als Kanzler im Jahr 2005 über viele Jahre eine linke Mehrheit, aber nie eine linke Regierung. Die Kanzlerin stellte stets die Union. Dass es seit dem Herbst 2017 keine linke Mehrheit im Bundestag mehr gibt, hängt auch damit zusammen, dass sie politisch nie genutzt wurde. Weil verletzte Eitelkeiten, gegenseitige Kränkungen und Rachsucht letztlich schwerer wogen als die Erwartungen der linken Wählerschaft. So erinnert die Geschichte der politischen Linken in Deutschland an eine Fußballmann-schaft, die dem Gegner den Sieg überlässt, weil man dem Mitspieler nicht den Erfolg gönnt.
Es bringt nichts, wenn linke Politiker, egal welcher Partei, beklagen, dass zehn Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des privaten Vermögens verfügen oder dass Kinder von Vermögenden weit größere Chancen auf einen attraktiven Beruf haben als ärmere. Wenn sie nicht bereit ist, sich zusammenzufinden, um daran politisch etwas zu ändern. Deshalb ist die Idee einer linken Sammlungsbewegung, die zusammenführt, was zusammengehört, ebenso richtig wie überfällig. Dort, wo bislang die Neurosen wuchern, müssen endlich wieder die Gemeinsamkeiten betont werden.
Die linke Sammlungsbewegung in Deutschland sei traditionell die SPD, betonen führende Sozialdemokraten dieser Tage trotzig. Das stimmt, was die Anfänge der Bundesrepublik betrifft, und eigentlich müsste die Sozialdemokratie auch jetzt wieder an der Spitze einer solchen Bewegung stehen. Aber sie steht dort nicht, sie fürchtet sich gar vor ihr. Der SPD mangelt es an Visionen, an Anziehungs- und Ausstrahlungskraft sowieso. Sie ist zu sehr in ihren Traditionen, Ritualen oder personellen Auswahlprozessen gefangen, um noch einmal das Leuchtfeuer für eine gesellschaftliche Bewegung zu sein, wie sie es zu Willy Brandts Zeiten war. Um einen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz jedenfalls wird sich kein Feuer des Aufbruchs mehr entfachen lassen, selbst wenn konservative Bürger, die ohnehin nie SPD wählen, Scholz in Umfragen gerade zu Bestwerten verhelfen.
Zudem lastet die eigene Vergangenheit zu schwer auf ihr, vor allem die jüngere. Für Millionen Menschen aus dem nicht privilegierten Teil der Gesellschaft, die in der SPD immer einen aufrechten Anwalt ihrer Interessen gesehen hatten, waren die Agenda-Reformen und insbesondere Hartz IV nichts anderes als ein Verrat, den sie ihr nicht verziehen haben und wohl nie verzeihen werden.
Auch deshalb wären die Sozialdemokraten klug beraten, zumindest offen für die neue Bewegung namens "Aufstehen" zu sein, so wie Brandt einst offen für linke Bewegungen war. Es wäre klug, wenn sie diesmal nicht die beleidigte Leberwurst gäbe – auch wenn diese Bewegung einen natürlichen Geburtsfehler hat: ihre Gründer. Wohl niemand – von Gerhard Schröder einmal abgesehen – hat zuletzt mehr für die Spaltung der politischen Linken in Deutschland getan als Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Wie gerade sie ein neues Gemeinschaftsgefühl erzeugen wollen, bleibt vorerst ihr Geheimnis. Aber vielleicht braucht es die beiden dazu bald gar nicht mehr. Vielleicht wird ihre Idee größer als sie selbst.
Dass sie einen Nerv getroffen haben, zeigen die 64.000 Unterstützer binnen wenigen Tagen. Und wenn es gut läuft, emanzipiert sich die Bewegung irgendwann von ihren Gründern. Es wäre jedenfalls nicht ohne Charme, wenn ausgerechnet aus einem Ego-Projekt eine große Bewegung für Solidarität erwüchse.