Karl Nolle, MdL

Dresdner Neueste Nachrichten, 19.10.2017

Der nette Nachbar und die verdrängte Blockflötengeschichte

 
Politiker mit sorbischen Wurzeln und etwas DDR-Vergangenheit / Tillichs heile Welt bekam am Ende Risse

LEIPZIG/PANSCHWITZ-KUCKAU. „Ich habe einen Spleen“, verrät Stanislaw Tillich vor paar ein Jahren launig bei einem Vortrag in Leipzig. Der Tick des MP: Er steht früh auf und pirscht sich durch die Natur der Oberlausitz, um Vögel zu entdecken. Ein holländischer Vogelkundler habe ihn darauf gebracht und die Lust auf die Natur geweckt. „Man muss nur früh um vier aufstehen – aber da hat man ja meistens noch Zeit.“

Im heimatlichen Panschwitz-Kuckau ist nicht nur die Vogelwelt für den Sachsen lange Zeit in Ordnung gewesen. Hier ist er geboren – im angrenzenden Neudörfel im Land der Sorben, am 10. April 1959. Die Mutter evangelisch, der Vater katholisch und Mitglied der SED-Ortsleitung: So wächst einer auf im DDR-Alltag zwischen katholischen Osterbräuchen und 1.-Mai Kampfdemonstrationen. Tillich lernt schnell – beruflich wird er nach Abitur in Bautzen und Ingenieurstudium an der TU Dresden Elektrokonstrukteur bei einer Firma in Kamenz. Politisch lernt er auch – geschickt voranzukommen. Dass er 1987 der CDU beitrat, will der Katholik als klares Bekenntnis gegen die SED und für eine christliche Partei verstanden wissen – und nicht als Hinwendung zum DDRr-Machtapparat. „Den Schuh“, sagte Tillich einst genervt auf Nachfrage, „ziehe ich mir nicht an.“

Später muss er doch noch mal zum Schuhanzieher greifen und seine politischen Fußabdrücke im DDR-System erklären. Ende 2008 tobt in Sachsen die Blockflöten-Affäre, und sie bringt den ewig lächelnden Sunnyboy – der kurz zuvor den glücklosen Georg Milbradt als Regierungschef beerbt hatte – erstmals in Bedrängnis. Der selbsternannte SPD- Chefaufklärer Karl Nolle, der gern in der Vergangenheit anderer bohrte, hatte entdeckt, dass Tillich seine Vita ein wenig geschönt hatte. „1987 bis 1989 Angestellter der Kreisverwaltung Kamenz“. So stand es im offiziellen Landtagshandbuch kurz und knapp. Etwas zu knapp: Als Stellvertreter des Vorsitzenden für Handel und Versorgung im Rat des Kreises hatte Tillich auch an einer DDR-Kaderschulung 1989 teilgenommen. Also doch ein bisschen mehr „Rotlichtbestrahlung“ für einen kommenden DDR-Führungskader? Tillich ändert stillschweigend seinen veröffentlichten Lebenslauf. Und bleibt weitgehend unbeschädigt im Amt.

Bis dahin war sein Aufstieg ohnehin rasant gewesen, ohne dass es einer so richtig mitbekam. 1990 rückte er für die CDU in die erste und einzig freigewählte Volkskammer ein, danach folgten von 1991-94 politische Lehrjahre als EU-Beobachter in Brüssel, bis 1999 blieb er als Abgeordneter im EU-Parlament.

Mit dieser Europaerfahrung im Gepäck folgte er Biedenkopfs Einladung nach Dresden. Und wurde im letzten Kabinett von „König Kurt“ Europaminister. Biedenkopfnachfolger Georg Milbradt holte ihn als seine rechte Hand in die Staatskanzlei, ab 2004 folgten Ministerjahre für Umwelt, ab 2007 im Finanzressort. Eine turbulente Zeit: Milbradt schickte Tillich ins Gefecht um die angeschlagene Sachsenlandesbank, deren Abwicklung eine teure Geschichte für das Land wurde. Und die Milbradt letztlich das Amt kostete. Ende Mai 2008 war Tillich ganz oben im Haus mit der goldenen Krone am Elbufer angekommen.

Seine Wurzeln vergaß Tillich dennoch nie. Seine Zugehörigkeit zu den Sorben hat er stets gepflegt. Die Herkunft sei ihm wesentlicher Teil seiner Identität, nicht aber seiner politischen Arbeit. Dass er neben Englisch und Französisch auch Polnisch und Tschechisch spricht, hat sich dennoch als Türöffner in Osteuropa erwiesen. „Meine erste Fremdsprache ist deutsch“, sagte er damals beim Vortrag in Leipzig schmunzelnd.

Tillich liebte den Rückzug ins Private. Kritiker meinten, zu oft. So lange es noch ging, war er als Osterreiter in Panschwitz Kuckau aktiv. Mit den Nachbarn feierte er jahrelang zusammen Geburtstag, schnitt die Hecke selbst und fachsimpelte mit den Handwerkern, als die Solaranlage aufs Dach seines Hauses montiert wurde. Trotzdem bekam zum Schluss das heile Bild des ach so Heimatverbundenen und Menschenverstehers feine Risse. „In meinem Heimatort haben sich die Gerüchte endlich in Luft aufgelöst, dass ich in Dresden ein Haus bauen würde“, kokettierte Tillich mit seiner Heimattreue. Unter Einhaltung der Verkehrsvorschriften würden sorbisches Heim und Dresdner Büro ja auch nur 35 bis 45 Minuten voneinander entfernt liegen. Dumm nur, als publik wurde, dass Tillich seit gut zwei Jahren in einem Penthouse auf dem Weißen Hirsch in Dresden wohnt. Das Sonnensolardach Haus steht nun zum Verkauf.

Auch die Geschichte vom Panschwitzer Bürgermeister wurde gern kolportiert, der nach Wahlen schon mal „seinen Stani“ anrief, um sich zu entschuldigen, wenn nicht mindestens 75 Prozent CDU gewählt haben. Nach dem unglaublichen Absturz der Sachsen-CDU bei der Bundestagswahl vor vier Wochen brauchte dagegen Tillich Erklärungshilfe: Er rief einen befreundeten Bürgermeister an, der ihm den AfD-Triumph erklären sollte. Parteifreunde schüttelten entsetzt den Kopf, der Chef schien Lichtjahre entrückt.

Und nun? Vielleicht Vogelkunde oder Computerkurs? „Ich verplempere unwahrscheinlich viel Zeit am Computer“, plaudert der Landeschef im November 2011. „Wenn ich frei habe, sitze ich zum Leidwesen meiner Frau vor diesem Ding, und weil Männer nie zwei Sachen gleichzeitig machen können, falle ich als Gesprächspartner aus.“ Im Wettstreit mit dem Sohn, wer schneller am Rechner sei, bleibt der Vater auf der Strecke: „Er ist 29 und viel besser als ich.“ Der Familienmensch, Vater zweier Kinder und seit 38 Jahren mit Ehefrau Veronika verheiratet, sagt das stolz. Letztere bete er an, hat er mal der „Bunten“erzählt. Und von Fußball habe sie auch mehr Ahnung.

Ein Leben ohne Politik scheint also gut möglich. Und eine Schlagzeile wollte sich Tillich immer ersparen: Als Vorgänger Georg Milbradt partout nicht gehen wollte, ätzte die Frankfurter Rundschau: „Totgesagte kleben länger“.