Karl Nolle, MdL
WELT, 08.09.2019
Was wirklich bürgerlich ist
"Gauland ist mit seiner dünnen Suppe nur erfolgreich, weil die Konkurrenz so schwach ist", schreibt WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt
Eine Antwort auf Alexander Gauland: Solange er die Nazi-Barbarei einen „Vogelschiss“ nennt und Halb-, Viertel- und Neonazis in der AfD duldet, kann sie keine bürgerliche Partei sein. Der Bürger führt Gesellschaften zusammen, statt sie zu spalten.
Chefredakteur Ulf Poschardt antwortet auf einen WELT-Gastbeitrag von Alexander Gauland („Wer bestimmt eigentlich, was heute bürgerlich ist?.
Das Bürgerliche meint alles und nichts. Wie so viele Begriffe, die wehrlos durch die Manege politischer Debatten geschleift werden, sind die Bedeutungskorridore und Bedienungsanleitungen so weit, disparat und zum Teil abstrus geworden, dass alles leer, hohl und öde klingt. Das Bürgerliche gehört eigentlich zum besten Tafelsilber unserer Zivilgesellschaft, aber weder die klassischen bürgerlichen Parteien wie Union und FDP wissen viel mit dieser Ideen- und Haltungsgeschichte des Bürgerlichen anzufangen noch die neubürgerlichen Parvenüs wie die Grünen oder nun die Bürgerdarsteller von der AfD. Fast hat man das Gefühl, dass die Rechtspopulisten angetreten sind, um uns vor Augen zu führen, dass Bürgertum keine Sache der Kostümierung oder gar der Uniform ist.
Je mehr proppere Juristen mit Hermès-Krawatten und ölige Ex-Liberale mit Karrieristen-Haarschnitt nun die Phänomenologie der Protestpartei mitprägen, umso deutlicher wird, wie vollkommen egal die richtige Wahl der Schnürschuhe und Perlenohrringe geworden ist, wenn aus diesen irgendwie bürgerlich dekorierten Figuren ekelhaftestes Ressentiment, Reaktionäres, Antisemitisches oder einfach nur widerlich Verlogenes herauskommt. Mag auch Herr Höcke gelernt haben, wie man einen dunklen Anzug trägt – wenn er bei Demonstrationen vor den Totengräbern und Feinden der liberalen Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie seinen schlichten, völkischen Kram runterleiert, dann wird die Staffage zu einem Täuschungsmanöver, das dünner und unorigineller kaum sein könnte.
Alexander Gauland – tweedig, Jaguar fahrend, hundebeschlipst – ist ein ideales Beispiel. Mit seinem Spruch vom „Vogelschiss“ in der Geschichte hat er alle Deutschen beschämt, zumindest jene, die wissen, dass die Jahre 1933 bis 1945 einen an Barbarei, Menschenverachtung, Entmenschlichung und Bestialität kaum zu überbietenden Zivilisationsbruch darstellen, von dem sich die Deutschen, die Verantwortung übernehmen wollen, genauso wenig erholen wollen wie jene, die einfach nur in tiefer Scham verharren – nicht nur, wenn sie an Synagogen, Schwulenklubs oder den Gräbern stolzer unbeugsamer Sozialdemokraten stehen, die von den Nazis abgeschlachtet wurden.
Kurzum, Gauland kann schreiben, postulieren und denken, was er will – solange er die Barbarei bagatellisiert, Halb-, Viertel- und Neonazis in seiner Partei duldet oder auch nur ignorierend verdrängt, mag er so oft behaupten, wie er will, dass er bürgerlich sei und die Programmatik seiner Partei auch, es ist ein durchschaubares Unterfangen. Das Bürgertum in seiner nobelsten Form war von liberalkonservativen bis linksidealistischen Träumern stets davon ausgegangen, dass im Miteinander und im Kompromiss eine Gesellschaft zu sich kommt und fortschreiten kann.
Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft war eine des kommunikativen Ideals, des wertschätzenden Dialogs. Es war die Idee, dass in Debatten Gefühle wichtig und zulässig sind, aber das Argument vom Verstand geführt wird. Davon ist in der AfD wenig bis nichts zu spüren. Eine populistische Partei hat nicht den mündigen Bürger im Sinn, sondern den Parteigänger der eigenen Erregtheit und die damit kommunizierten Ressentiments. Zum mündigen Bürger gehört, dass er sich für die Meinungen der anderen interessiert. Der mündige Bürger lebt eine fast heroische Idee von Souveränität, in deren Zentrum steht, dass jede Meinung gehört werden kann und die Vermutung gilt, dass auch das Gegenüber recht haben könnte.
Die AfD hat es verpasst, sich nach rechts klar abzugrenzen
Gauland war, so berichten Weggefährten aus Frankfurt am Main, ein liberaler Konservativer, neugierig auf die Grünen, offen für andere Wege. Er war einer der eher klügeren Köpfe der CDU, einer Partei, in der es Intellektuelle nie richtig weit gebracht haben. Dieser Gauland ist im falschen Jubel von Reaktionären und Antiliberalen aus sich selbst verschwunden. Nun ist Gauland ein Zuspitzer und Antiaufklärer. Weil niemand Gauland Intelligenz absprechen kann oder will, darf man unterstellen, dass er bei seinen Entgleisungen wie dem „Vogelschiss“ wusste, was er tat. Er hat die Tür zur Hölle aufgestoßen. Und er hat sich bis heute nie dafür entschuldigt. Er lässt seine gärigen Lager weiter gären in Bereiche hinein, dass jeder Bürgerliche – wie nationalromantisch und stockkonservativ er auch sein mag – Reißaus nimmt.
Seine Partei, die AfD, fing als Professorenklub an und hatte in den Anfängen den Keim ihres künftigen weltanschaulichen Abstiegs schon in sich. Es fehlte das Bewusstsein, dass man sich als rechte Partei nach ganz rechts abgrenzen muss.
Das Bürgerliche ist vor allem eine innere Haltung: ein Versuch, aus eigenen Interessen heraus die Gesellschaft in ihrer inneren und auch ökonomischen Liberalität im Sinne des Fortschritts und der Freiheit weiterzuentwickeln. Das Bürgertum ist in seinen besten Momenten wie bei Maggie Thatcher auch als revolutionäre Kraft organisiert. Unerschrocken, wehrhaft und leidenschaftlich für das Wohl des Großen und Ganzen und bereit, auch harte Kämpfe auszufechten. Im Grunde genommen ist nach der Lösung der sozialen Frage das Bürgertum die einzig revolutionäre Klasse.
Und da ist der Lärm der rechten Reaktionäre ebenso wenig hilfreich wie die dünnen Bürgerlichkeitsfolien bei den Grünen. Die aktuellen Enteignungs- und Vergesellschaftungsdebatten sind radikal antibürgerlich. Parteien, die das wollen oder mit Kommunisten koalieren wie in Berlin, sind nicht bürgerlich – oder sie verraten ihre bürgerliche Identität.
Auch eine Linke kann bürgerlich sein. Es ist die Linke, die aus Arbeiterkindern Bürger machen will. Die also an den Aufstieg glaubt und den sozialen Aufsteiger in das Zentrum stellt. Es gibt natürlich auch eine Rechte, die bürgerlich ist. Sie hat ein aufgeklärtes Verhältnis zu ihrem Land und pflegt einen reflektierten Patriotismus. Sie liebt ihr Land, und weil sie ihr Land liebt, ahnt sie, dass andere Menschen in anderen Ländern gleichberechtigt diese Liebe für ihr Land haben. Sie sind durch das andere (Ethnien, sexuelle Identitäten, Religionen, Kulturen) nicht bedroht, sondern inspiriert.
Der Bürger führt Gesellschaften zusammen statt sie zu spalten
Die von Gauland zu Recht postulierte innere und äußere Unabhängigkeit macht den Bürgerlichen misstrauisch gegen Heilsbringer jeder Art. Noch misstrauischer aber gegen Bauernfänger und verbitterte Pessimisten. Wie nostalgisch Gaulands Konzepte sind, wird besonders zum Ende seines WELT-Beitrags deutlich, wenn die für die AfD so unerlässliche Wendung gegen den Islam kommt. Er tut dies wie immer mit einer Strategie der Gratwanderung. Der einzelne Muslim könne „natürlich“ (ach so!) Staatsbürger werden, aber mehr als der einzelne – so meint er es – natürlich nicht. Da wird es schnell verantwortungslos. Dass in Elitegymnasien ebenso wie in Verlagen, Kliniken oder Notarskanzleien muslimische Bürger zum Besten, Inspirierendsten, Weltoffensten, Liberalsten gehören, was dieses Land zu bieten hat – dazu fehlt Gauland die Vorstellung.
Gauland will die alte Bundesrepublik zurück, Teile der Ostpartei die völkische Homogenität der provinzialistischen DDR. Gauland blickt zurück, um das Bürgertum zu denken. Dabei ist das Bürgertum nie nostalgisch: Es kämpft immer um ein besseres Morgen. Es ist manisch progressiv und liberal, ohne die Tradition zu vergessen. Eine gestrige Partei räumt staubige Marionetten des Bürgerlichen auf die Bühne. In Zeiten von Spaltung und vergifteten Debatten ist es das dringlichste Anliegen des Bürgers, eine Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Nicht naiv um des lieben Friedens willen, sondern wehrhaft in Absicherung der eigenen Interessen und politischen Vorstellungen.
Deutschland geht es gut, wenn die Mitte des Landes strebsam, zuversichtlich und maßvoll den Ton angibt. Wenn sich Teile des Bürgertums an die Ränder verlören, ginge es dem Land schnell sehr schlecht. Gauland weiß das alles, aber er hat zu lange Applaus von den falschen Rängen bekommen. Radikalisiert sich die AfD weiter, mag sie Erfolg haben bei den Verbitterten und Abgehängten. Doch mit jeder weiteren Entgleisung werden bürgerliche Wähler entfremdet. Es ist Aufgabe der bürgerlichen Parteien, der sogenannten, diese Enttäuschten wieder zurückzugewinnen und ihnen Antworten zu geben auf Fragen, die verdrängt oder verharmlost oder ignoriert werden. Gauland ist mit seiner dünnen Suppe nur erfolgreich, weil die Konkurrenz so schwach ist.