Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 08.11.2001
Ohne Zettel und Souffleur
Nach 100 Tage Roßberg hofft Dresden auf mehr Tempo für Verkehr, Wirtschaft und Olympia
DRESDEN. Er tauscht den Türknauf seines Zimmers durch eine Klinke aus, reißt die Fenster auf, um frischen Wind ins Rathaus zu lassen und übt sich anfangs in allerlei Symbolik. Morgen sitzt Ingolf Roßberg (FDP) 100 Tage auf dem OB-Stuhl und die schönen Bilder sind Bergen von Alltags-Problemen gewichen. Skeptiker gibt es zuhauf. Doch selbst die schärfsten Roßberg-Kritiker müssen ihre Vorurteile zumindest ein stückweit korrigieren. Der neue Mann an Dresdens Rathaus-Spitze überrascht durch forsches, geradliniges und unkompliziertes Auftreten. Er kann reden ohne Zettel und Souffleur.
Falls er etwas nicht weiß, kokettiert er mit seinem "kurzen Auslandsaufenthalt" im Westen. Auch wenn die Sekretärin Opa Walter nicht gleich durchstellt, kommt der Bürger jetzt viel leichter an den OB heran. Während sein Vorgänger in Volkes Menge durch Unbeholfenheit glänzt, posiert Roßberg schon mal selbstsicher als Traktorfahrer mitten auf der Prager Straße. Abends beim Weinfest isst er Langos mit extra-dick Knoblauch, um am nächsten Morgen mit seinen Personalräten zu diskutieren. Und wenn er am Wochenende im Freizeit-Look samt Frau und drei Kindern durch die Stadt zieht, freut er sich diebisch über erstaunte "Das ist doch . . "-Rufe von Passanten.
Dabei legt Roßberg schon nach 100 Stunden im Rathaus einen klassischen Fehlstart hin. Bei der Kraftprobe mit der Union stellt er auf stur, kämpft bis zur letzten Instanz und verliert. Offenbar mit den falschen Beratern an der Seite. Nur Stunden später schlägt Roßberg zurück - mit einer neuen Rathaus-Struktur, die seine Hausmacht stärkt und Kompetenzen der Bürgermeister beschneidet. Die Aufsichtsbehörde schaut zu.
Vor allem die Wirtschaft fürchtet jetzt eine monatelange Blockadepolitik zwischen OB und Stadtrat. Doch die erste Sitzung läuft erstaunlich friedlich ab. Die Union, deren harter Kurs nicht überall auf Gegenliebe stößt, hält sich zurück. Roßberg selbst setzt auf Tempo. Wer sich in Polemik ergießen will, riskiert einen Rüffel.
Passt in keine politische Schublade
In eine politische Schublade lässt sich der neue Oberbürgermeister nicht stecken. Verbündete sucht er dort, wo er sie braucht, tritt dabei zuweilen auch Teilen seines Wahlklientels auf die Füße. Parteirivale Jan Mücke kommt jedesmal ins Schwitzen, wenn der OB wieder neben der offiziellen FDP-Linie liegt. Während FDP-Landeschef Holger Zastrow im Quertreiber Roßberg immer mehr den Vortreiber für die nächsten Wahlen entdeckt, argumentiert Mücke inzwischen mit den Worten der Opposition: "Roßberg ist kein FDP-OB, sondern ein OB für alle Dresdner."
In der Runde der Bürgermeister setzt Roßberg auf Sachlichkeit. Die Klage der SPD gegen die Wahl im Stadtrat nimmt er unkommentiert zur Kenntnis. "Zwar ist noch immer ein gewisses Maß Misstrauen da", sagt Ordnungsbürgermeister Detlef Sittel (CDU). "Aber ich sehe konstruktive Ansätze." Bis heute allerdings will sich der OB nicht festlegen, wer sein Stellvertreter wird.
Was die Umsetzung von Wahlzielen betrifft, gehen die Meinungen auseinander. Während CDU-Fraktionschef Michael Grötsch "die vollmundigen Versprechen nicht ansatzweise erfüllt" sieht, zeigen sich die Roßberg-unterstützenden Oppositionsparteien fürs Erste ganz zufrieden. Beim Verkehr zieht sich der neue OB mit Waldschlößchenbrücke und Königsbrücker Straße die beiden größten Streitthemen auf den Tisch, bringt Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) auf seine Seite und stellt sich dreist gegen Landeskonservator Gerhard Glaser. "Wir beobachten mit Erstaunen, dass jetzt mehr passiert als früher", sagt IHK-Präsident Hartmut Paul.
Für die Wirtschaft ruft Roßberg einen Mittelstandsbeirat ins Leben, verleiht der Innenstadt durch seine Mitgliedschaft im City-Management mehr Gewicht. Die Kultur nimmt der OB vor dem Rotstift seines Finanzbürgermeisters in Schutz, freie Jugendhilfe und die Feuerwehr bekommen mehr Geld. Im Sport hisst Roßberg die Olympia-Fahne, marode Schulen setzt er vor Straßen auf Top eins. Und über das größte Finanzloch der Stadt, den Wiener Platz, wird endlich Klartext geredet. Nicht immer freilich geschieht das so offen, wie Roßberg einst predigt. Seine montäglichen Presse-Gespräche sind dank Kaffee und Häppchen zwar beliebter denn je. Selbst Politiker wie CDU-Sprecher Jürgen Eckoldt kommen gern und oft. Aber wie unter Wagner darf sich alles ab Bürgermeister abwärts nur mit Genehmigung in der Öffentlichkeit äußern.
Schwarzer Peter an Bürgermeister delegiert
Eher enttäuschend, bemängelt die PDS, fällt auch Roßbergs angekündigter Kassensturz aus. Die von Wirtschaftsprüfern vorgelegten Sparvorschläge wischt er energisch als falsch vom Tisch, fordert Nachbesserungen und setzt eine Arbeitsgruppe Verwaltungsmodernisierung ein. Fürs Kürzen im nächsten Jahr delegiert er die Verantwortung und damit auch den schwarzen Peter an seine Bürgermeister ab.
Nach nur 100 Tagen sind viele Wünsche und auch unangenehme Themen offen. Es müssen Lücken in der Innenstadt geschlossen, Gebühren angepasst, Personal reduziert und städtische Bereiche privatisiert werden. 16 Arbeitsstunden hat ein Roßberg-Tag. Zu kurz angesichts der Fülle von Problemen. Im Zimmer des OB hängt jetzt ein Schild mit einem Fontane-Spruch: "Wer ein Ziel will, darf den Weg nicht scheuen, er sei glatt oder rau."
WAHLVERSPRECHEN UND WAS DARAUS WURDE
Rathaus: wird Dienstleister, bekommt Bürgerservicebüro (Eröffnung heute) und OB-Sprechstunden (umgesetzt), Verwaltungsmodernisierung (Arbeitsgruppe gegründet);
Schulen: dringenste Mängel an Sanitäranlagen und Dächern werden umgehend behoben (Schulen auf Platz eins gerückt, mehr Geld eingestellt;
Verkehr: schnelle Verbesserungen im Verkehrsfluss - Antistauprogramm (in Arbeit unter neuer Hauptabteilung Mobilität);
Wirtschaft: Gründung Mittelstandsbeirat (erfolgt) und Projektgruppe Innenstadtentwicklung (noch offen); Handlungsprogramm Gewerbeflächen (mehr Geld für Ankauf eingestellt);
Kultur: Konzepte für Philharmonie und Operette (bis Ende des Jahres);
Haushalt: Klärung Ausgangssit., Einführung Ausgabencontrolling/Mehrjahresbudget (in Arbeit)
(Von Katrin Saft)