Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 10.01.2002
Die Besten gehen in den Westen
Die Bürger in Ostdeutschland beurteilen die Zukunftsaussichten der Wirtschaft pessimistisch
Eine Frage stellt der Chemnitzer Gewerkschafter Sieghard Bender auf Betriebsversammlungen jetzt immer – und stets heben fast alle die Hand. „Bei wem von euch sind denn Angehörige zum Arbeiten in den Westen gegangen?“, möchte der IG-Metall-Bevollmächtigte aus Südwestsachsen wissen. Fast jeder könne mindestens ein Beispiel aus seiner Familie anführen, berichtet Bender. Da ist der Sohn zur Arbeit nach Ulm oder die Tochter zur Lehre in ein Hotel nach München oder die Nichte nach Stuttgart gezogen. Fast immer sind es die jungen Leute, die gehen, und die Eltern, die zurückbleiben, ergreift oft Depression: „Die Eltern wissen, dass einer, der mit 16 oder 17 wegzieht, meistens nicht zurückkommt.“ Oft führe das zu familiären Problemen, sagt Bender, der vor elf Jahren als Aufbauhelfer nach Chemnitz kam. Die Verzweiflung werde durch das Gefühl verstärkt, dass gerade die Besten weggehen. Jedes Jahr besuche er Abgangsjahrgänge der Schulen in der Region. „Da herrscht die Grundstimmung: Wir hauen sowieso ab, weil wir müssen!“
Bender hat sich in Sachsen mit seinem Engagement bei der Rettung von Betrieben einen solch guten Namen gemacht, dass auch der christdemokratische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ihm dafür Anerkennung zollt. Seit einigen Monaten organisiert Bender Protestaktionen, um die Bundesregierung wachzurütteln. „Die wollen gar nicht wahrnehmen, wie die Stimmung hier kippt“, schimpft er über die Führung in Berlin und meint damit vor allem den sozialdemokratischen Staatsminister für den Aufbau Ost, Rolf Schwanitz. Bender warnt, dass „die Ignoranz führender Sozialdemokraten“ dafür sorgen werde, dass die Bundestagswahl für die SPD diesmal im Osten verloren geht. Vor vier Jahren hatte die SPD ihren deutlichen Erfolg vor allem den starken Zugewinnen und vielen Überhangmandaten aus den neuen Ländern zu verdanken. „Die SPD hat die Wahl im Osten beinahe schon verloren“, mahnt er.
Die Stimmung ist tatsächlich schlecht wie seit langem nicht. Das gilt generell und für das Ansehen der rot-grünen Bundesregierung. Die am Mittwoch veröffentlichten miserablen Arbeitslosenzahlen werden den Trend weiter verstärken. Auf 17,5 Prozent ist die Quote im Osten angestiegen und ist damit mehr als doppelt so hoch wie im Westen. In den neuen Ländern sind 1,38 Millionen Menschen arbeitslos. In Umfragen bewerten viel mehr Ostdeutsche als noch vor zwei Jahren ihre Situation negativ. Gestiegen ist auch die Zahl jener, die sich als Bürger zweiter Klasse sehen. Besonders problematisch für die Bundesregierung: Nur wenige beurteilen die Zukunftsaussichten für den Osten positiv. Noch mehr als die Arbeitslosigkeit löst offenbar die Abwanderung Zukunftssorgen aus. Allein im vergangenen Jahr zogen mehr als 200 000 Menschen von Ost nach West, die meisten waren jünger als 25 Jahre. Die Folgen werden für die ostdeutsche Gesellschaft schon jetzt zum Problem. Weil wegen der Perspektivlosigkeit vor allem junge Frauen gehen, gibt es in besonders strukturschwachen Regionen, etwa in Ostsachsen, schon einen Überschuss an jungen Männern.
In der Ost-SPD rumort es; die Kritik, die auch dem Kanzler gilt, macht sich an Schwanitz fest. Unlängst forderte Sieghard Bender öffentlich die Ablösung des Staatsministers: „Ab in den Westen mit ihm, ohne Rückfahrkarte!“ Schwanitz stammt aus Plauen im Vogtland und ist Vize-Chef der sächsischen SPD. Dennoch musste er hinnehmen, dass Funktionäre im eigenen Landesverband nicht hinter ihm stehen. Auch in den Nachbarländern halten führende Genossen den moderaten, sachbezogenen Schwanitz in der Rolle als Kämpfer für den Osten für eine Fehlbesetzung. Der Dresdner Landtagsabgeordnete Karl Nolle, der als Verfolger von Biedenkopfs Affären bekannt wurde, schließt sich der Kritik an. Er wirft Schwanitz vor, dass er dem Kanzler die Misere nicht deutlich mache: „In Berlin fehlt jemand mit dem Mut zur Ehrlichkeit und dem Willen zur schonungslosen Analyse.“ Mit nervöser Anspannung blicken vor allem die Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalt der nächsten Umfrage entgegen. Im Dezember lagen sie erstmals nach Jahren bei einer Umfrage deutlich hinter den im Land nicht eben profilierten Christdemokraten. Eine weitere schlechte Umfrage könnte vor den Wahlen einen Abwärtstrend für Ministerpräsident Reinhard Höppner einleiten. Zur Landtagswahl am 21. April fürchten einige Magdeburger Sozialdemokraten ein Déjà-vu mit umgekehrtem Vorzeichen: Vor vier Jahren landete Sachsen-Anhalts CDU mit rund 12 Prozent Verlust bei 22 Prozent. Das Desaster wurde vor allem mit der Wut der Wähler auf die Regierung von Helmut Kohl erklärt.
(Jens Schneider)