Karl Nolle, MdL
Die Woche, 31.08.2001
Treck nach Westen
Die ABWANDERUNG aus den neuen Ländern nimmt wieder zu. Viele sehen keine Hoffnung mehr, ganze Landstriche veröden
Die Abwanderung aus den neuen Ländern nimmt wieder zu. Viele sehen keine Hoffnung mehr, ganze Landstriche veröden
Der Letzte macht die Gardine zu. Bloß nicht abhängen! Im mecklenburgischen Goldberg, auf der halben Strecke zwischen Hamburg und Berlin, versucht man das Ausbluten des Ortes zu kaschieren. Als klar wurde, dass der massive Wegzug der Einwohner seit der Wende nicht zu stoppen war, zu viele leer stehende Häuser entlang der Hauptstraße dem Städtchen aber ein deprimierendes Äußeres bescherten, bat man die West-Flüchtenden, doch wenigstens ihre Gardinen dazulassen. Guter Trick. Er hilft jedoch nicht: Nach den Jahren verfallen die alten Häuser rund um die Gardinen.
»Wir werden noch viele Parkplätze in der Altstadt bekommen«, lästert Uwe Reimer, denn viele der maroden Häuser müssen nun abgerissen werden. Der 62-Jährige leitet die Touristeninformation in der Langen Straße, schräg gegenüber dem Rathaus, mitten in der immer menschenleerer werdenden Innenstadt.
Reimers Sohn zog schon vor sechs Jahren nach Hamburg. Als ihm auch die Umschulung keinen Weg zur Arbeit wies, ging er zu ihr. Ein Tross Gleichaltriger folgte. Die Lawine kam ins Rollen. Die Goldberger packen seit dieser Zeit ihre Sachen. Das Städtchen verliert jährlich 100 Einwohner. Am Tag der Einheit, am 3. Oktober 1990, wohnten noch 5072 Menschen in der Gemeinde. Heute sind es 3946 - ein Fünftel weniger. Zahlen, die Bürgermeister Dieter Wollschläger wie ein Geheimnis hütet. Er fürchtet um den Ruf Goldbergs und darum, was Peer, der abgewanderte Weißbinder aus Parchim, ausspricht: »Nicht mehr lange, und das hier ist eine Geisterstadt.«
Einen Vorgeschmack bietet die Altstadt. Sie gibt der ländlichen Idylle morbide Herbheit, man könnte auch sagen: ein hässliches Gesicht. 40 Häuser rotten hier vor sich hin. Die Innenstadt wird löchrig, und auf dem »Feldherrenhügel« - dort, wo bis zur Einheit NVA-Soldaten mit ihren Familien wohnten - stehen bunt aufgepoppte Plattenbauten meist leer. » Da wurde am Bedarf vorbeisaniert«, räumt Hauptamtsleiter Gerd Wüster ein. Viel Raum für wenig Perspektive.
Auch von 36 neu gebauten Sozialwohnungen stehen zwei Drittel leer: Die subventionierte Miete von 9,20 Mark (4,70 ) pro Quadratmeter kalt übersteigt das Budget derer, die seit Jahren von Sozialhilfe leben und die Hoffnung auf einen Job längst haben fahren lassen. Seit zehn Jahren liegt die Arbeitslosenquote in Goldberg konstant bei 20 Prozent. Jana, die die Husemann-Realschule besucht, sagt lakonisch: »Hier wird das nichts mit mir. Nach der Schule gehe ich nach Berlin, egal, was meine Eltern dazu sagen.«
Damals, nach der Wende, hat eine Bürgerinitiative die NVA aus der Garnisonsstadt gemobbt. Und damit den Hauptarbeitgeber. Damals glaubte man noch an die goldene Zukunft als Urlaubsort. Das Rennen haben andere gemacht. Im Rathaus schwante den Verantwortlichen etwas, also ließen sie gleich 1991, als der letzte NVA-Panzer wegrumpelte, ein schönes Industriegebiet erschließen.
Zehn Jahre später führen dort Straßen ins Nichts, Laternen beleuchten das hüfthohe Gras, Kabel und Kanäle, wo Kühe grasen könnten - aber auch die haben Goldberg verlassen. Drei Viertel der Fläche liegen brach, gerade 22 Menschen arbeiten auf dem für 1 Million Mark (511 000 ) erschlossenen Gelände: Lackierer, Autoverkäufer, Rohrleitungsbauer, die ihre Betriebe aus der Innenstadt hierher verlegt haben.
»Dreh- und Angelpunkt sind nun mal Arbeitsplätze. Die haben wir nicht, und damit haben Jugendliche hier keine Perspektive«, sagt Hauptamtsleiter Wüster. Stattdessen beobachtet er, wie die Eltern ihren Kindern die Resignation vorleben. » Da kann man schon froh sein, wenn Junge aktiv Arbeit suchen und weggehen. Auch wenn das für die Stadt bitter ist.«
Den Dagebliebenen bietet Goldberg dafür acht Supermärkte. Alle erdenklichen Discounter haben sie auf Freiflächen gepflanzt, auf dass sich die ohnehin schwache Kaufkraft derart fein verteilt, dass den Einzelhändlern marktreinigende Pleiten bevorstehen. » Dass vor allem die junge Kundschaft fehlt, merken wir ganz schön«, sagt Verkäuferin Sabine Tschirpke, die im »Minipreisbomber« in der Langen Straße im Schnitt nur 60 Leute am Tag bedient.
Übrig bleiben die Alten. Vor drei Jahren zählte die Grundschule noch 230 Schüler, nun sind es noch 130, im kommenden Jahr werden es gerade mal 90 sein.
Wie lange die Haupt- und Realschule weitermachen kann, ist ungewiss. » Der stetige Niedergang ist vorgezeichnet«, bekundet der Hauptamtsleiter knapp - auch wenn das hier niemand wahrhaben will.
Goldberg - eine Ost-Kommune, die wie im Brennglas die Probleme verdorrender Ostregionen zeigt: Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Überalterung. Mit all den Folgen: Investoren bleiben aus, Kaufkraft schwindet, urbane Zentren verfallen.
Wer nach der Lage in den Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns fragt, bekommt meist ein gottergebenes »Wie überall hier« zur Antwort. Die Menschen gewöhnen sich ans Abschiednehmen. Seit 1990 sind per Saldo mehr als 170 000 aus Mecklenburg-Vorpommern abgewandert, 27 000 al-lein nach Hamburg. Jährlich verlassen rund 3500 Menschen unter 25 Jahren die Region (siehe Kasten). Ein Land wird aufs Altenteil geschickt: 1993 waren 17 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre, 1998 waren es bereits 21 Prozent, 2020 wird es - selbst bei optimistischen Annahmen - mehr als jeder Dritte sein.
Rüdiger Conrad, Sprecher des Arbeitsamtes Neuruppin, konstatiert: »Seit gut zwei Jahren verstärkt sich wieder der Trend, mobiler zu sein, um Arbeit zu finden. Wer nicht wegzieht, pendelt. Teilweise sogar bis nach Stuttgart. Vor Jahren hätte das niemand gemacht.«
»Jeder zweite Jugendliche spielt mit dem Gedanken, in den Westen zu gehen«, zitiert Hanns-Eberhard Schleyer, Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Umfragen. Allein 1999 hät-ten 14 000 Ostdeutsche eine Lehrstelle im Westen angenommen. Nicht ausschließen will er Zustände wie im Mezzogiorno, dem armen Süden Italiens.
Einige Regionen in Nordbrandenburg und Vorpommern wurden vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung bereits als perspektivlos abgeschrieben. In 55 Kleinstädten schrumpfte die Bevölkerung seit der Wende um ein Fünftel. » Die Leute wollen nicht abwandern, sie müssen«, sagt Christine Hannemann. Die Stadtsoziologin der Berliner Humboldt-Universität erforscht die Zukunft ostdeutscher Kleinstädte. Ihr vorläufiges Fazit: »Die regionalen Unterschiede werden zunehmen, das Nord-Süd-Gefälle dramatischer werden.« Selbst von der EU-Osterweiterung profitierten strukturschwache Gebiete nicht: »Die werden übersprungen, weil sich niemand für Landschaftsparks interessieren wird.«
Wolfram Kempe vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hält solche Szenarios für überzogen. Unter dem Strich seien seit 1992 lediglich 300 000 Menschen aus den neuen Ländern weggegangen - 1,5 Millionen Wegzügen stünden 1,2 Millionen Zuzüge gegenüber. Ein Problem sei jedoch, dass Junge und gut Ausgebildete gehen. » Aber aus den alten Ländern wandern im Gegenzug qualifizierte Kräfte zu.« Der Berliner Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz sieht es drastischer: »Die Jungen gehen und die Rentner bleiben oder kommen wieder.« Der sächsische Landesbischof Volker Kreß klagt gar, der Treck gen Westen erreiche teilweise Dimensionen wie vor dem Mauerbau 1961.
Kempe plädiert dennoch für Mobilitätshilfen. Es spreche nichts dagegen, wenn das Arbeitsamt Freising mit dem im sächsischen Bautzen kooperiere, um fehlende Arbeitskräfte nach Bayern zu bugsieren. » Damit ist allen geholfen: den Arbeitslosen, den Arbeitskräfte Suchenden und den Lokalpolitikern.« Ein durchaus umstrittenes Modell. Denn auch wenn die Ost-Landschaften noch lange vor sich hin welken sollten, spätestens in fünf Jahren schlägt der Geburtenknick voll durch. Dann werden die geburtenschwachen Jahrgänge der Nachwendezeit die Schule verlassen, viele Fachkräfte in Rente gehen und Lehrstellen unbesetzt bleiben. » Demografische Falle« nennen das Experten.
Dafür rüstet sich Helmut Holter, PDS-Arbeitsminister in Schwerin. Seine Lösung: »mv2you«. Das ist nicht der Name eines Internet-Start-ups, sondern der »Rückhol-Agentur« Mecklenburg-Vorpommern, die in den alten Ländern ausgebildeten Fachleuten die Rückkehr schmackhaft machen soll. Interessierten soll sie zum Beispiel das Faltblatt des Kegelvereins, Dorfnachrichten und Veranstaltungstipps mailen und natürlich Angebote offener Stellen. Die Botschaft, so Holter: »Wer weggeht, wird nicht vergessen.«
Auch andere Wiederbevölkerungsideen wurden bereits erwogen, wie etwa Landstriche Vorpommerns und Ost-Mecklenburgs zu Ansiedlergebieten für Russlanddeutsche zu machen. Oder Prämien für Rückkehrer zu zahlen, wie der sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Karl Nolle fordert. Der Bevölkerungsexperte Münz hält von solchen Vorschlägen wenig, allein schon, weil die neuen Länder wegen mangelnder Möglichkeiten nicht in der Lage seien, Zuwanderer zu halten.
Überdies hält der Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität das Wehklagen über den verödenden Osten für eine »typisch deutsche Debatte«.
Schließlich seien in Westeuropa entvölkerte Gebiete wie in Irland, Skandinavien oder Griechenland normal. » Da sorgt sich niemand. Bei uns herrscht hingegen der Wahn, überall einheitliche Lebensverhältnisse schaffen zu müssen.« Für Münz ist es unvermeidlich, dass sich Teile Deutschlands entleeren und zu Naturreservaten werden. Man könne schließlich die Menschen in Mecklenburg nicht zu »Sozialrentnern« machen, denen womöglich eine »Bleibeprämie für Geisterstadtbewohner« gezahlt werde. Sein wenig optimistisches Motto: »Laufen lassen! Was soll man anderes machen?«
1,5 Millionen Menschen sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit 1992 aus Ostdeutschland (ohne Berlin) in die alten Länder abgewandert. Seit 1998 nimmt die Abwanderung wieder zu. Eine wichtige Ursache ist der Verlust an Arbeitsplätzen: Seit 1991 wurden in den neuen Ländern 921 000 Arbeitsplätze abgebaut, das entspricht jeder siebten Stelle. Wird der Trend nicht gestoppt, rechnen Experten mit einer Abwanderung aus den neuen Ländern um noch mal gut 1 Million bis 2020. Dann würden dort nur noch 13 Millionen Menschen leben. Vor der Wende waren es in der ehemaligen DDR noch rund 17 Millionen. Zwei Drittel von ihnen wären Rentner. Schuld an dieser demografischen Entwicklung trägt auch der drastische Geburtenrückgang: Mit 1,1 Kindern pro Frau haben die neuen Länder eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt.
(Chris Löwer)