Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, Seite 28, 14.09.2003

Sachsen auf Achse

Dem Autoland Sachsen gehen die Facharbeiter aus ...
 
Mit einem Stand auf der Frankfurter IAA will der Freistaat beweisen, dass die Autowelt mit ihm zu rechnen hat – während im Osten schon die Fachkräfte knapp werden, Von Jens Schneider

LEIPZIG – Bevor der Konvoi auf die Teststrecke zieht, hat der Instrukteur einen wichtigen Hinweis für die Probefahrer. Seine Mahnung klingt ein wenig übervorsichtig, fast peinlich für die Teilnehmer. Hält man sie für Kindsköpfe, die sich wie Schumachers aufführen, sobald sie auf einer Rennstrecke die Macht über 340 PS haben? In jedem Fall bittet der Porsche-Mitarbeiter die Gäste, schön in der Kolonne zu bleiben und nicht zu überholen. Allemal soll niemand am Wagen vorbeiziehen, mit dem er die Ideallinie vorfährt. Die Ideallinie über den Leipziger Rundkurs, dessen Kurven, so schwärmt der Instrukteur, berühmten Rennstrecken nachempfunden sind. Er führt durch den Nachbau der Parabolica von Monza und hinein in die Kopie der Loews-Kurve von Monaco. Auf der Geraden empfiehlt der Mann den Gästen, einmal so richtig aufs Gas zu gehen.

Freilich ist auch im Cockpit eines Porsche alles eine Frage der Perspektive.

Man kann in diesem Moment hinter dem Steuer eines Cayenne-Geländewagens über den astronomisch hohen Benzinverbrauch nachdenken und, während der Motor porschetypisch röhrt, still den Kopf schütteln. Das aber tun wohl die Wenigsten. Bei der Probefahrt wird nicht gespart. Einige Gäste erliegen der Versuchung, die Kurven scharf zu schneiden. „Mit Vollgas aus der Kurve heraus – und sich sehr, sehr glücklich fühlen.“

So verspricht es der Werksprospekt, und es ist gewiss kein Zufall, dass Sachsens Wirtschaftsminister Martin Gillo seine Einführung in das „Autoland Sachsen“ hier auf der Einfahrstrecke von Porsche in Leipzig beginnen lässt. Das Werk im Norden der Olympia-Stadt in spe ist so etwas wie ein automobiler Abenteuerspielplatz. Neben den Produktionshallen, in denen 370 Mitarbeiter den Cayenne-Geländewagen fertig stellen, hat Porsche hier eine 3707 Meter lange Teststrecke und einen ausgedehnten Geländeparcour gebaut. Auf dem einstigen Truppenübungsplatz haben Landschaftsdesigner Schikanen entworfen, denen der Käufer eines Geländewagens im Straßenverkehr kaum wieder begegnen wird. In einer Art Naturreservat, zwischen Auerochsen und Wildpferden, durchfährt er Wassergraben, Knüppeldamm, bewältigt eine Rampe mit 60 Prozent Steigung. Ein Realität gewordenes Werbe-Idyll. Wenn dann Siegfried Bülow, Geschäftsführer von Porsche Leipzig, noch vom Standort, der Motivation der Mitarbeiter und dem niedrigen Krankenstand schwärmt, passt das gut in das Bild, das die Sachsen gern von sich sehen.

Gut ein Vierteljahr nach dem Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche im Osten startet Wirtschaftsminister Gillo jetzt eine groß angelegte Kampagne unter dem Titel „Autoland Sachsen“. Sie soll international wirken und – ohne die Absicht zu erwähnen – den Image-Schaden kompensieren, den der Standort erlitten hat. Schon während des Streiks hatte der Wirtschaftsminister seine außergewöhnliche Parteinahme gegen die Gewerkschaft mit der Unruhe unter potenziellen Investoren begründet. Die Drohung, das Engagement im Osten zu überdenken, wie sie etwa aus der BMW-Zentrale kam, war demnach nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Der Streik sei ein absoluter Schock für Unternehmen in Übersee gewesen, sagt Gillo.

Größte Baustelle Europas

Das Autoland Sachsen sei, so halten seine Wirtschaftsförderer nun dagegen, ein Standort in der deutschen „Spitzenliga“. Neben Baden-Württemberg verfüge der Freistaat über die meisten Autohersteller, von Volkswagen mit Werken in Zwickau und Chemnitz und der Gläsernen Manufaktur in Dresden über Porsche bis zum Bushersteller Neoplan. Und weil das so ist, präsentiert sich das Autoland in diesem Jahr mit einem eigenen Stand auf der Frankfurter IAA. „Sachsen kommt“, das möchte der Freistaat signalisieren, trotz Streik. Deshalb tragen die Sachsen auch gerne etwas dicker auf, wie so oft in ihrer Selbstdarstellung.

Derzeit macht die Branche mehr als 20 Prozent des Umsatzes im verarbeitenden Gewerbe. Mitsamt den rund 450 Zulieferunternehmen seien 60 000 Menschen im Automobilbau beschäftigt, heißt es. Gegenüber westdeutschen Autoländern ist das zwar noch relativ wenig. Doch weitere Zuwächse sind absehbar.

Vom Porsche-Werk fährt man wenige Kilometer ostwärts auf der A 14 zur größten Baustelle Europas. Auf 208 Hektar Fläche, so viel wie 260 Fußballfelder, wachsen am Rand von Leipzig bereits die Produktionshallen in die Höhe, in denen von 2005 an die 3er-Reihe von BMW gebaut werden soll. Schon lange vor Produktionsbeginn kann der Leipziger Firmensprecher Hubert Bergmann mit Superlativen prahlen. Rund 2800 Menschen arbeiten zurzeit auf dem Gelände – Bauarbeiter und Einrichter, die zum Beispiel die künftig „sauberste Lackiererei der Welt“ vorbereiten. Rund 1,3 Milliarden Euro kostet dies alles, mehr als 5000 Mitarbeiter sollen hier arbeiten.

Den eigentlichen Superlativ aber präsentiert BMW mit einer digitalen Anzeige im Info-Zentrum der Baustelle. Die aktuelle Bewerberzahlliege, so steht da, bei 91 993. Das große Reservoir an potenziellen Arbeitskräften bleibt der große Vorteil der Region. Nach aufwändigen Tests hat BMW bereits 1000 Mitarbeiter eingestellt, die in bayerischen Werken geschult werden. Fast alle stammen aus dem Osten, aber nur rund ein Viertel war vor dem Einstieg bei BMW arbeitslos. Anfangs war der Anteil deutlich niedriger. Viele Bewerber kamen aus festen Stellen, arbeitslose Bewerber scheiterten meist im Auswahlverfahren.

Nun bemüht sich BMW gezielt, ihnen eine Chance zu geben. Im Projekt „Poleposition“ in Kooperation mit dem Arbeitsamt werden sie gecoacht – offenbar mit Erfolg: Nach einer zweiten Bewerbung wurden viele genommen. Ihre Ausbilder melden sogar, dass sie unter ehemaligen Arbeitslosen besonders großes Führungskräfte-Potenzial entdecken.

Die Leipziger Erfahrungen könnten noch sehr nützlich werden. Trotz hoher Arbeitslosenquoten sehen Experten einen dramatischen Fachkräftemangel als künftige Gefahr für das Autoland, weil viele ältere Arbeitslose nicht die nötige Qualifikation mitbrächten und aufgrund der niedrigen Geburtenraten bald der Nachwuchs fehlen wird. In Südwestsachsen monieren Unternehmer schon, dass sie schwer Fachkräfte fänden. Für ein neues Dieselmotorenwerk in Stollberg bei Chemnitz, das in Kooperation mit Siemens entsteht, hat Volkswagen zwar mehr als 4000 Bewerber – findet darunter aber nicht die nötigen Spezialisten. VW-Sprecher Peter Schlelein bestätigt, dass man erstmals versucht, Fachleute aus der Region, die in den Westen abgewandert sind, zurückzulocken.

Während etwa der sächsische SPD-Wirtschaftspolitiker Karl Nolle dramatische Vorboten des Fachkräftemangels erkennen will, begrüßen manch regionale Politiker heiter die Umkehr der Abwanderung aus dem Osten. Die Arbeitsämter zeigen sich not amused. „Ich glaube, dass wir die nötigen Kräfte mit Hilfe einer Nachqualifizierung stellen können“, sagt Karl Peter Fuß, Präsident des Landesarbeitsamtes. Es wäre doch zehnmal besser, meint er, „wenn wir das Potenzial nutzen, das wir hier schon haben“.