Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 16.09.2003

SPD hofft verzweifelt auf Herrn T. aus L.

Parteispitze drängt Leipzigs OB Tiefensee zu Spitzenkandidatur – der lässt alle zappeln
 
Wenn der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) am kommenden Sonnabend im großen Konferenzsaal des Renaissance-Hotels ans Mikrofon tritt, dürfte es umgehend mucksmäuschenstill werden.

Die 120 Delegierten des SPD-Landesparteitages haben ab dem Moment immerhin knapp 40 Minuten Zeit, um aus jedem einzelnen Tiefensee-Satz eine Antwort auf die Frage herauszuhören, die den sächsischen Sozialdemokraten zurzeit jeden Tag heftiger unter den Fingernägeln brennt: Tritt Tiefensee nun als SPD-Spitzenkandidat zur Landtagswahl im Herbst 2004 an oder tut er es nicht?

Eine direkte Antwort dürfte es aus dem Mund des Vielumworbenen aber auch am Wochenende nicht geben. Tiefensee, dem auf dem Parteitag eine längere Redezeit eingeräumt wird als der SPD-Landesvorsitzenden Constanze Krehl, hat sich ein anderes Thema gewählt: das Städte-Netzwerk Eurocities, dessen Präsident der Leipziger OB ist.

Thematisch folgt er damit zwar dem Europa-Motto des Parteitags, gefühlsmäßig wird Tiefensee aber erneut glatt an den Herzen seiner verzweifelten Genossen vorbei reden. Die hoffen nämlich immer inständiger darauf, dass sich der populäre Bürgermeister aus der Pleißestadt endlich auf das Wagnis einer SPD-Spitzenkandidatur einlässt. Nachdem eine aktuelle Umfrage der Partei ein Jahr vor der Landtagswahl nur 14 Prozent der Wählerstimmen bescheinigt, scheint dies vielen Sozialdemokraten der einzige realistische Ausweg, um nicht weitere fünf Jahre in der landespolitischen Bedeutungslosigkeit ausharren zu müssen. Allein vor April 2004 möchte sich Tiefensee zu dem Thema nicht äußern.

Inzwischen bröckelt aber die Front jener Genossen, die diesen schmerzhaften Fahrplan ihres Spitzenmannes weiter akzeptieren. Vor allem das Risiko, dass Tiefensee im Frühjahr doch Nein sagt, und einen Ersatzmann oder eine Ersatzfrau in ein aussichtsloses Rennen treibt, zerrt gewaltig an den Nerven der Parteispitze. Als erster machte der Chef der SPD-Landtagsfraktion, Thomas Jurk, in der vergangenen Woche Druck. Wolfgang Tiefensee, „tendiert mehr dazu, es zu machen“, ließ Jurk zu dem bisherigen Tabuthema erstmals verlauten.

Prompt meldete sich daraufhin der SPD-Abgeordnete Karl Nolle zu Wort, der noch vor Jahresfrist intern heftig gescholten wurde, weil er Tiefensee öffentlich zur Kandidatur-Zusage drängte. Unverdrossen fordert Nolle nun erneut: „Tiefensee muss es machen!“

Fast scheint es, ob damit der Damm gebrochen ist. So stellte sich gestern SPD-Chefin Krehl, die neben Tiefensee, Jurk und dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Rolf Schwanitz, das offizielle Bewerberquartett vervollständigt, auf die Seite der Fordernden. „Je länger er nicht Nein sagt, umso mehr ist es ein Zeichen für mich, dass er sich das ernsthaft überlegt.“

Und Krehl geht noch stärker in die Offensive. Mit Tiefensee als Nummer Eins sei ein Stimmenpotenzial von „mindestens 30 Prozent plus x“ erreichbar, rechnet sie fast ultimativ vor. Damit würde sich dann für die SPD sogar die Frage des künftigen Ministerpräsidenten und einer Koalitionsmehrheit stellen – mit wem auch immer.

Derart angestachelt legt Juso-Chef Martin Dulig dem Kandidaten endgültig Daumenschrauben an. „Ich glaube, bis spätestens Jahresende haben wir das Signal von Tiefensee. Ich wünsche mir es noch viel eher.“ Alles andere, so begründet Dulig seinen Optimismus, würde Sachsens SPD, die auf 4 808 Mitglieder geschrumpft ist, künftig völlig demotivieren. Allein Wolfgang Tiefensee werde das verhindern.
(Von Gunnar Saft)