Karl Nolle, MdL

Leipziger Volkszeitung, 28.07.1999

Prominenz legt in Dresden Grundstein für gläserne VW-Manufaktur

Werkrundgang mit Stadtbesichtigung
 
DRESDEN. Für Gerhard Schröder macht das Sinn. Die gläserne Manufaktur der Volkswagen-Werke in Dresden sei "kein Schnickschnack", sagt der Bundeskanzler, sondern ein Stück neuer Vertriebsstrategie für Zeiten, in denen die Produkte in Technik, Design und Qualität immer vergleichbarer würden. Unvergleichbares müsse geschaffen werden. Zum Beispiel ein gläserner Montage-Palast, wo die Käufer eines Luxusautos den Zusammenbau der Einzelteile, die Testfahrten und die Endabnahme miterleben, zwischendurch im Park rundherum Entspannung finden und auf Wunsch auch teilhaben können an den Sehenswürdigkeiten Dresdens.
Den Autokauf als Besuch in einer Erlebniswelt, gepaart mit Neugier und Genuß, beschwört auch VW-Chef Ferdinand Piech bei der Grundsteinlegung vor rund 450 Gästen. Für Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ist die Montage des Autos hinter Glas auch Ausdruck einer neuen Kultur für das 21. Jahrhundert. 360 Millionen DM läßt sich VW die zunächst umstrittene, jetzt aber vielgelobte gläserne Manufaktur kosten. Dort sollen in Zwickau-Mosel gefertigte und lackierte Einzelteile eines 150 000-DM-Luxusautos am laufenden Montageband montiert werden.
Die Einzelteile kommen mit Bahn und Lkw nach Dresden und per Straßenbahn direkt zur Endmontage. Für 150 Wagen pro Tag ist die Kapazität in Dresden angelegt. Da VW auch mit Kunden aus Übersee rechnet, ist ein Auto-Transport per Schiff im Angebot. Der Wagen steht vor der Haustür, wenn der Käufer seinen Europatrip beendet hat. Im Herbst soll das neue VW-Flaggschiff erstmals öffentlich vorgestellt werden. Spätestens zur Jahreswende 2000/2001 ist die Manufaktur fertig. Dann werden dort 800 Menschen beschäftigt sein. Außerdem ist mit neuen Arbeitsplätzen in Zuliefererbetrieben zu rechnen.
Piechs Zahlenwerk dazu: Wenn alle Autos verkauft werden, bringt das jährlich 400 Millionen DM zusätzliche Steuereinnahmen für Dresdens Stadtkasse und angesichts der neuen Art, Geschäfte rund ums Auto zu machen, eine Milliarde DM Wertschöpfung im Jahr. Das alles paßt zum Auto-Boom, der auch im Osten Deutschlands Umsätze und Arbeit sichert. Allein VW lieferte im ersten Halbjahr 1999 mit 610 866 Fahrzeugen in Deutschland 11,5 Prozent mehr als 1998 aus. Fast jede dritte Pkw-Neuauslieferung kommt aus Wolfsburg, Kassel oder Mosel. Insgesamt stieg der Konzern-Umsatz auf rund 74 Milliarden DM (-12,7 Prozent), der Gewinn vor Steuern lag bei 2,2 Milliarden DM (+10,1 Prozent), der Reingewinn lag bei 845 Millionen DM (+1,7 Prozent). Die Autofabrikation in Sachsen und Thüringen zählt zu den modernsten Europas. Gerhard Schröder nennt sie "die beste Autoindustrie der Welt" und fühlt sich nicht getroffen, wenn man ihn wegen seines Einsatzes für die Branche als "Auto-Mann" kritisiert, ihn angreift wegen der zögerlichen Haltung zur EU-Altauto-Rücknahmeregelung. Solange er Einfluß habe, werde er darauf achten, daß die Autobauer im internationalen Wettbewerb ihre Chancen behalten. Die Rahmenbedingungen müßten stimmen, das gelte auch für die Diskussion um den Smogalarm, erklärt der Kanzler, ohne den Namen seines Umweltministers Trittin zu nennen.
Die Grundsteinlegung bei VW ist für das Ex-Aufsichtsratsmitglied des Wolfsburger Konzerns Schröder Dienst. Die anschließenden Besuche in der Dresdner Druckerei seines einstigen Juso-Spezis Karl Nolle, der als einer der SPD-Spitzenleute für den sächsischen Landtag kandidiert, und in einer Freiberger Halbleiterfabrik zählen zum Sommer-Wahlkampf. Nolle hat ein Volksfest aufgezogen, führt dem Kanzler seinen Betrieb vor, findet aber beim sichtlich gestreßten Gast kaum Aufmerksamkeit mit Erläuterungen zur Mitarbeiterbeteiligung, auf die er besonders stolz ist. Die Müdigkeit weicht erst, als Schröder den rund 500 Gästen den Spar-Kurs seiner Regierung erläutert und verspricht, diesen auch durchzuhalten; auch unter Anspielung auf Sachsens SPD-Spitzenkandidaten Karl Heinz Kunckel dezenten Hinweis, die soziale Gerechtigkeit nicht außer acht zu lassen.
Ein Fotoreporter nimmt das Modell der neuen gläsernen VW-Manufaktur auf, für die gestern Bundeskanzler Gerhard Schröder (kleines Foto rechts), Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (Mitte) und VW-Vorstandschef Ferdinand Piech den Grundstein legten. Fotos: rtr/dpa
Chronologie
Fahrzeugbau in Sachsen mit langer Tradition
Sachsen hat Automobilgeschichte geschrieben. Nicht nur der DDR-Volkswagen "Trabant", sondern auch alte klangvolle Namen wie Horch, Wanderer, Audi und Auto-Union sind mit dem Land eng verbunden. Hier einige historische Eck-Daten:
1902: Der Ingenieur August Horch zieht mit seinem Autounternehmen von Köln nach Reichenbach ins Vogtland. Das Jahr gilt als Geburtsstunde des sächsischen Automobilbaus.
1904: Horch geht mit seinem Unternehmen nach Zwickau.
1909: Wegen Meinungsverschiedenheiten verläßt Horch das Unternehmen und gründet ein neues mit dem Namen "Audi" (lateinisch: "Horch!" oder "Höre!").
1922: Im erzgebirgischen Zschopau verläßt das erste zweitaktgetriebene Motorrad der Welt die Montagehallen. Das DKW-Werk (DKW = Dampf-Kraft-Wagen) war aus einer Maschinenfabrik des Dänen Jörgen Skafte Rasmussen hervorgegangen. Nach dem Krieg entsteht die Marke "MZ" (Motorradwerk Zschopau).
1928: Die wegen der schlechten Weltkonjunktur schwer angeschlagenen Audi-Werke werden von Rasmussen aufgekauft.
1932: Die Auftragslage für die sächsischen Autobauer zwingt Horch, Audi, DKW und die Autoabteilung der Wanderer-Werke Chemnitz zur Fusion. Die Auto Union AG mit dem Zeichen der vier Ringe - heute das Symbol der Audi AG Ingolstadt - entsteht.
1945: Die durch Bomben stark zerstörten Autowerke in Südwestsachsen, die auf Kriegsproduktion umgestellt worden waren, werden liquidiert. Die Besatzungsbehörden veranlassen die Stillegung sowie die Mitnahme von Maschinen, Anlagen und Dokumentationen in die Sowjetunion.
1946: Die ehemaligen Auto-Union-Werke werden per Volksentscheid "volkseigen". Im gleichen Jahr beginnt die Serienproduktion der Autos F8 und F9 in Zwickau. Der F9 wird später in Eisenach gebaut. 1952 - Das Audi-Werk wird der "VEB Automobilwerke Zwickau", aus Horch wird der "VEB Kraftfahrzeugwerke Horch", später "VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau".
1956: Die beiden Zwickauer Autobetriebe werden zum "VEB Sachsenring Automobilwerke". Die Serienfertigung des "Trabant" beginnt.
1990: Der erste Trabi mit Viertaktmotor - eine Lizenz von Volkswagen - wird produziert. Im September legt VW den Grundstein für ein Werk im nahen Mosel. Wenige Monate später läuft der erste Polo vom Band.
1991: Der letzte Trabant läuft in Zwickau vom Band. Mehr als drei Millionen Stück wurden gebaut.
1992/93: Die Sachsenring Automobilwerke GmbH gehen in Liquidation. Die Brüder Ulf und Ernst-Wilhelm Rittinghaus kaufen die Vermögensgegenstände und bauen den Betrieb in den Folgejahren zu einem führenden ostdeutschen Autozulieferer aus.
1998: Die VW Sachsen GmbH wird mit 6,4 Milliarden DM zum umsatzstärksten Unternehmen der neuen Bundesländer. 6700 Mitarbeiter sind in Mosel bei Zwickau sowie im Motorenwerk Chemnitz beschäftigt.
1998: Einmillionster VW aus Sachsen rollt vom Band. Grundstein für gläserne Fabrik in Dresden.
(Manfred G. Stüting)