Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 29.05.2004

5 Euro 40 Cent: "Das ist ein Hungerlohn!"

In armen Ost-Regionen gehen die Gehälter in den Keller. Und die Menschen nehmen das hin. Wie Ostdeutschland sich selbst seinen Niedriglohnsektor schafft:
 
Harte Hände-Arbeit kann sehr billig sein. In Gegenden, in denen die meisten Arbeitslosen die Hoffnung auf eine tarifliche Beschäftigung aufgegeben haben, fallen die Löhne. Die Zahl der Niedriglöhner in Deutschland wächst, vor allem im Osten der Republik. Nur erkannt werden möchte keiner.

Dieter Meier heißt nicht Meier. Der gelernte Kühlanlagenbauer aus dem Erzgebirge in Sachsen, südlich von Chemnitz, hat sogar einen ziemlich markanten Namen. Aber für die Öffentlichkeit mag er nur Meier heißen oder Schmidt. Hauptsache, was unverfängliches.

Der Arbeiter hat Angst. Angst, dass er seine Arbeit verlieren könnte, um die ihn manche Bekannte beneiden. Dabei hat er überhaupt nichts zu verbergen: Er arbeitet nicht schwarz oder illegal.

"Was will ich denn zu Hause sitzen?"
Im Gegenteil, manche Wirtschaftsweise würden ihn wohl als leuchtendes Vorbild preisen. Nicht gerade für sich selbst, aber doch für viele Arbeitslose. Dieter Meier hat sich der Lage angepasst, nach unten hin, immer weiter nach unten.

"Ja was soll’s?", sagt er mit leiser Stimme und zuckt mit den Schultern. "Was will ich denn zu Hause sitzen?" Das sagt er nicht klagend, sondern heiter. Froh, jeden Tag um halb sieben für die nächsten acht Stunden erwartet zu werden.

Im ersten Moment meint man nichts von einer Melancholie darüber zu spüren, dass er mit seinen 58 Jahren, in einem Alter also, da ein Mann gemeinhin hofft, die Ernte seiner Arbeitsjahre einzufahren, nur noch nehmen kann, was er kriegt.

"Mädchen für alles"
So würde er das selbst nie ausdrücken. "Mir macht’s Spaß", sagt er, grinst und erzählt stolz, was er in seinem Job alles an Aufgaben findet, bei denen er seine Fertigkeiten aus 40 Jahren Berufsleben nutzen kann.

Er schraubt und schweißt, schleift und fummelt — "eben so als Mädchen für alles", freut sich Meier. Er ist dankbar, dass ihm das Arbeitsamt diesen Posten vermittelte. Der schlanke und zugleich kräftig wirkende kleine Mann sieht längst nicht wie 58 Jahre aus, sondern um einiges jünger.

Leicht kann man sich vorstellen, wie er als erfahrener Handwerker in der Spinnerei am Fuße des Erzgebirges dem Arbeitgeber mehr ist als eine kleine Hilfe. Bezahlt aber wird der 58-Jährige zu einem Stundenlohn, der — schon bevor die Steuern abgezogen werden — auch in seinem Heimatstädtchen nicht für eine Pizza reicht.

Arbeitslosengeld ist deutlich höher
Meier bekommt 5 Euro und 40 Cent für jede Stunde Arbeit. "Klar", bestätigt Meier, "das ist deutlich weniger, als ich an Arbeitslosengeld bekommen habe".

Wieder zieht er die Schultern hoch und fragt: "Was soll’s?" Bloß nicht drüber nachdenken. "So ist das nun mal." Aber wenig später wird seine Stimme für einen Moment dünn, als er davon redet, wie viel er früher verdient habe, nach der Wende auf dem Bau.

21 Mark die Stunde bekam er damals in Zschopau, und zuletzt auch bei Einsätzen für eine Firma in Westdeutschland. Schlichtweg das doppelte vom heutigen Lohn. Bei dem Gedanken muss auch Meier stutzen — als hätte er sich das selbst noch nie ausgerechnet.

Billiglöhne sind nicht die Ausnahme
Dann lacht er wieder freundlich und sagt, dass es ja nichts bringt, zu Hause zu sitzen — und außerdem gehe es ihm doch wirklich nicht allein so. Rund um seine Heimatstadt und im ganzen Erzgebirge wie auch in strukturschwachen Regionen in Sachsen und in ganz Ostdeutschland sind Billiglöhne mittlerweile keine Ausnahme mehr.

Niemand weiß, wie viele Menschen inzwischen für Brutto-Stundenlöhne von zwei, drei oder vier Euro arbeiten — auch die Gewerkschaft nicht, die auf das Lohngefüge hier immer weniger Einfluss hat.

"Aber es werden immer mehr", sagt Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen. Nach seiner Einschätzung ist längst eine moralische Grenze unterschritten. "Wer so wenig bezahlt, handelt unverantwortlich. Die Leute können doch nicht mehr am Leben teilnehmen. Das ist ein Hungerlohn!"

Mit 40 Arbeitsstunden Familie nicht zu ernähren
Im Bereich des Landkreises Mittleres Erzgebirge, wo auch der frühere Kühlanlagenbauer mit dem Decknamen Meier wohnt, lässt sich das Ausmaß an einer verblüffenden Zahl aus der Sozialstatistik ablesen.

In dieser Region rund um niedliche kleine Städte wie Marienberg geht inzwischen jeder Vierte der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger voll arbeiten: Die Leute schaffen 40 Stunden die Woche, können aber ihre Familien davon nicht ernähren.

Arbeitgeber schweigen
Wenn man nach Arbeitgebern sucht, die so eine Lohnpolitik erklären, winken die Verbände freilich ab. Darüber rede niemand. Beim Arbeitgeberverband in Dresden möchte sich der Geschäftsführer gleich gar nicht zum Thema äußern.

Der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Südwestsachsen in Chemnitz, Wolfram Raschke, ordnet die Niedriglöhne offen als Phänomen der Region ein. "Das ist etwas, womit man leben muss, aber auch leben kann", sagt er.

Mit Niedriglöhnen überleben
Im Erzgebirge gebe es unter den sehr bescheidenen Menschen "einen Ehrenkodex, lieber für wenig Geld auf Arbeit zu gehen als von staatlicher Hilfe zu leben". Die Leute wollten nicht zur Untätigkeit verdammt sein. "Das ist die hiesige Mentalität." Zugleich könnten viele kleine Firmen überhaupt nur überleben, weil es die Niedriglöhne gibt.

Warum aber bekennen Firmenchefs sich dazu nicht öffentlich? "Sie haben Angst an den Pranger gestellt zu werden", antwortet der Hauptgeschäftsführer.

Dabei sind Leute wie Meier nur das Gesicht einer Entwicklung, die Ostdeutschland mehr und mehr ergreift: Wo jeder fünfte keine Arbeit mehr findet, nimmt der Rest auch sinkende Löhne in Kauf. Nur nicht zuhause herumsitzen.

Pfarrer gibt Rückhalt
Im kleinen Erzgebirgsort Zschopau kennt sich kaum einer so gut auf diesem Feld aus wie der Pfarrer Johannes Roscher. Der Mann mit dem langen leicht roten Haaren und Bart ist das, was die Leute bei der Gewerkschaft einen engagierten Pfarrer nennen, wie es sie immer seltener gebe.

Er hat in der Region in den vergangenen Jahren viele Menschen in schwierigen sozialen Verhältnissen betreut und kennt sich durch seine Arbeit mit einer Erwerbsloseninitiative in der Region ziemlich gut aus.

In seinem kargen Büro im Gemeindezentrum erzählt er, dass dieser Kreis noch zu DDR-Zeiten zu denen mit der größten Industriedichte zählte. Bei Zschopau produzierte die einst legendäre Zweiradmarke MZ früher Motorräder, auch in der Holzindustrie und in Textilfabriken fanden die Erzgebirgler Arbeit.

20 Prozent Arbeitslose
Inzwischen jedoch sind viele Firmen dicht, und obwohl jeden Montag früh ein langer Strom von Pendlern westwärts zieht, um in Bayern oder Baden-Württemberg zu arbeiten, liegt die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent.

Roscher kennt aus seiner Beratung einige Niedriglöhner. Aber wenn er sie bittet, darüber öffentlich zu sprechen, reagieren sie scheu. Nicht einmal verdeckt, mit einem Tarnnamen, wollen sie Journalisten begegnen.

Irgendwie könnte ja ihr Arbeitgeber sie doch in einer Reportage wieder erkennen, und dann wären sie — so die Furcht — ihren Arbeitsplatz schnell los. "Du weißt doch nie", sagt Meier, "wie der Arbeitgeber das aufnimmt."

Mitmachen oder gehen
Wer das Spiel nicht mitmacht, scheidet oft einfach aus. So wie die gelernte Krankenschwester aus dem Kreis. Als Sprechstundenhilfe verdiente sie schon vor elf Jahren bei einer Ärztin sieben Mark in der Stunde. Irgendwann wurden daraus 3,50 Euro, aber eine Erhöhung gab es nie.

Vor zwei Monaten erklärte die Ärztin ihr, dass sie nun auch noch die wöchentlich bezahlte Stundenzahl senken müsse, die Praxis gebe nicht mehr her. Die Krankenschwester lehnte ab — und ist nun gekündigt.

Inzwischen, so hat sie gehört, habe die Ärztin billigeren Ersatz gefunden. Auch die erfahrene Arzthelferin will nicht unter ihrem Namen in die Zeitung. Sie wolle sich nicht die Chance nehmen, einen neuen Job zu finden.

Zur Angst kommt die Scham
"Die Leute mögen sich nicht dazu bekennen, dass sie zu Löhnen arbeiten, von denen sie nicht leben können", sagt Pfarrer Roscher. In Beratungsgesprächen hört er immer öfter, dass Familien nicht mehr über die Runden kommen. Dass sie Ersparnisse aus besseren Zeiten aufbrauchen oder sich verschulden müssen.

Weil in den Familien das Geld fehlt, sind die Ansprüche in einem Maß gesunken, das auch Roscher noch überrascht. Für ein Beschäftigungsprojekt, bei dem sie in Werkstätten der Denkmalpflege oder Kindergärten helfen, konnte er jungen Arbeitslosen zwei Euro pro Stunde bieten.

Roscher erwartete Murren und Ablehnung, aber die Jugendlichen meldeten sich freiwillig. "Da hatten sie nämlich doppelt so viel wie bei der Sozialhilfe", sagt Roscher.

Nicht genug Kaufkraft
In einer Stadt wie Zschopau haben es Firmen schwer, auf deren Angebote die Menschen leicht verzichten können. Pfarrer Roscher sieht, wie Buchläden und selbst Gaststätten ums Überleben kämpfen. "Da fehlt einfach die Kaufkraft", sagt er.

Als erstes geht man eben weniger weg, und dann im Grunde fast gar nicht mehr. Dieter Meier sagt: "Das ist nicht drin. Selbst wenn ich überall spare." Auch über den Erzgebirgskamm ins nahe gelegene Tschechien, wo viele aus dem Ort billig einkaufen und Essen gehen, fährt er selten. Eigentlich nur, wenn Kumpel mitkommen, die was zum Benzin zuschießen.

Mit dem Auto hinaus fahren und fremde Winkel erkunden, das hat er immer gern gemacht. Schon früher mit dem Trabant, dann dem Wartburg — und erst recht mit dem Golf, den er sich leistete, als er Anfang der Neunziger richtig gut verdiente. "Hätte ich ja nie gemacht, wenn ich das alles gewusst hätte: ein neues Auto kaufen", sagt er.

Nur noch im Angebot kaufen
Aber er klagt nicht. "Muss man halt zu Aldi gehen, und Klamotten kaufst du nur, wenn es Angebote gibt", sagt er und zieht wieder die Schultern hoch. Er hat doch ständig was um die Ohren. Hilft bei der Tochter am Haus, passt auf die Enkelin auf, und jeden Morgen geht es raus zur Spinnerei. "Wir werden da gebraucht", freut er sich.

Nur eins bereitet ihm Sorgen. Wenn es mit diesem Job vorbei sein sollte, hat er noch einige Jahre bis zur Rente. Von dem Arbeitslosengeld könnte er dann kaum noch leben. Denn das orientiert sich am letzten Lohn.
(Von Jens Schneider)