Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT, 30/2004, 15.07.2004

Und im Keller ein Lied

Das Elend der SPD in diesen Tagen ist allgemein.
 
Wie führt man Wahlkampf mit dem Rücken zur Wand? In Brandenburg, Sachsen und im Saarland leiden die Sozialdemokraten an ihrer eigenen Bundesregierung. Die einen klammern sich ans Gestern – die anderen erfinden die Volkspartei ohne Mitglieder

Dresden/Potsdam/Saarbrücken. Als ob die SPD in Sachsen nicht schon genug Probleme hätte! Und nun hat sich auch noch Wolfgang Clement als Wahlkampfhelfer angekündigt. »Natürlich versuchen wir, Sympathieträger zu gewinnen«, seufzt einer in der Runde. Aber Clement?

Drei Kandidaten und eine Hand voll Helfer haben sich versammelt, um den Landtagswahlkampf der SPD in Dresden zu organisieren. Einen halben Tag hat sich Clement im August freigehalten, doch längst nicht alle in der kleinen Runde sind davon überzeugt, dass ihnen der Auftritt des »Superministers« wirklich hilft. Im Gegenteil. Nicht wenige der sächsischen Genossen sehen in Clement und seiner Arbeitsmarktpolitik die Hauptschuldigen dafür, dass die SPD im Freistaat bei der Europawahl vor einigen Wochen nur 11,9 Prozent der Stimmen erreicht hat. Eine Erklärung, die schon deshalb nicht überzeugt, weil die Sozialdemokraten bei der letzten Landtagswahl noch schlechter abgeschnitten hatten – und damals, 1999, war Clement Regierungschef in Nordrhein-Westfalen.

Doch nun ist er »Superminister«. Clement steht wie kein anderer für die ungeliebten Reformen der rot-grünen Regierung, und irgendetwas müssen sie ja mit ihm unternehmen, wenn er nach Dresden kommt. Denn ausladen, darüber ist sich die Runde einig, das geht nicht. Wie wäre es also mit einer Betriebsbesichtigung? Ein mittelständisches Unternehmen, ein Existenzgründer am besten. Schließlich hat der Minister »auch Positives zu berichten«. Und anschließend eine Podiumsdiskussion im kleinen Kreis, »das wäre am ungefährlichsten«. Klar ist, was nicht gewünscht wird: »Bloß nicht auf dem Altmarkt mit 10000 Leuten über Hartz IV diskutieren!«

Der Wahlkampf als Abwehrschlacht.

Nicht nur in Sachsen bauen die Genossen zurzeit ihre Verteidigungslinien auf. Auch im Saarland und in Brandenburg wird im September gewählt. Aber wie schottet man sich ab gegen den Zorn der Wähler? Wie reagiert man auf Umfragen, die die Bundespartei mittlerweile auf einem Allzeittief zwischen 23 und 25 Prozent notieren? Kurz: Wie führt man Wahlkampf mit dem Rücken zur Wand?

»Mit starken Nerven«, antwortet Thomas Jurk. Dann stockt er kurz. Es scheint, als erschrecke er über seine eigenen starken Worte. Nein, nein, spricht er weiter, nun deutlich gedämpfter, natürlich sei die Lage schwierig. »Aber ich halte es mit Gesine Schwan, die die Leute schließlich auch mit ihrer erfrischenden Art überzeugt hat.« Thomas Jurk, 42, ist Spitzenkandidat der SPD in Sachsen. Und wenn man ihm gegenübersitzt, wirkt der Vergleich mit Gesine Schwan verwegen – nicht nur, weil der kräftige Mann dort eine gepflegte Halbglatze trägt, wo die Expräsidentschaftskandidatin der SPD ihre Haare zu Bergen türmt.

Jurk führt den mit Abstand erfolglosesten Landesverband der SPD. Seit Anke Fuchs 1990 vergeblich gegen Kurt Biedenkopf kandidiert hat, ging es stetig bergab. »Wir konnten nicht mehr an die großen Traditionsstränge der Sozialdemokratie in Sachsen anknüpfen.« Resigniert weist Jurk auf die August-Bebel-Büste hinter seinem Schreibtisch. Bebel und Wilhelm Liebknecht waren 1867 als erste Sozialdemokraten in den Reichstag des Norddeutschen Bundes eingezogen – für zwei sächsische Wahlkreise. Ihre Erben haben erst vor 14 Tagen die eigene Landesvorsitzende gestürzt, mitten in den Wahlvorbereitungen. Das Ziel für die Landtagswahl am 19. September ist bescheiden. »Wir wollen wesentlich besser sein als beim letzten Mal«, sagt Jurk. Doch mit etwas Pech wird er der erste Sozialdemokrat sein, der ein einstelliges Wahlergebnis zu verantworten hat. Vor fünf Jahren schlug die sächsische SPD bei 10,7 Prozent auf.

Dabei gibt es für die SPD in Sachsen durchaus etwas zu gewinnen. Bei der Bundestagswahl 1998 stimmten 840000 Wähler im Freistaat für die Sozialdemokraten; 2002, bei Schröders Wiederwahl, waren es dank des Elbhochwassers sogar 860000. Doch bei der Europawahl vor fünf Wochen blieben von diesen Stimmen nur noch 186000 übrig, nicht einmal mehr ein Viertel. Ähnlich dramatisch lesen sich die Zahlen auch in den anderen Ländern, in denen demnächst gewählt wird. In Brandenburg hat die SPD zwischen der Bundestagswahl 2002 und der Europawahl im Juni mehr als 500000 Wähler verloren; im Saarland sackte sie von 322000 auf 131000 Stimmen. Die absoluten Zahlen verraten mehr als die bloßen Prozentpunkte über die Aufgabe, vor der die Partei steht.

»Mobilisieren« lautet das Zauberwort, das einem in diesen trüben Tagen aus der SPD entgegenschallt, in Dresden genauso wie in Potsdam und in Saarbrücken. Unsere Wähler, heißt das, sind nicht verloren. Sie bleiben zu Hause und müssen irgendwie wieder an die Urne gebracht werden. Bloß wie? »Mit landespolitischen Themen«, antwortet Jurk und redet sich Mut zu. »Milbradt ist nicht Biedenkopf, auch die CDU bekommt langsam Mobilisierungsschwierigkeiten.« Tatsächlich gehört es zu dem Paradox der jüngsten Wahlergebnisse, dass die SPD zwar dramatisch verloren, die CDU aber keineswegs gewonnen hat. Hinter den Zahlen verbirgt sich mehr als nur das gegenwärtige Elend der SPD. Sie künden von einem Vertrauensverlust, der das herkömmliche Parteiensystem in Gänze erschüttert und den Ausgang von Wahlen zunehmend in das Belieben des Augenblicks stellt. Heute profitiert davon die PDS, morgen vielleicht die NPD. Und übermorgen, auch das ist gar nicht ausgeschlossen, wieder die SPD. Die Hoffnung, um die sich Wahlkämpfer wie Jurk bemühen, entspringt derselben Unberechenbarkeit wie ihre Verzweiflung. Nur Hartz IV, diesen Klotz am Bein, werden sie bis September nicht wieder los.

Die Szenen sind, jedenfalls auf den ersten Blick, widersprüchlich. Da begrüßt der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck den Kanzler in Neuhardenberg, freundlich-witzelnd stellt er ihn in eine Reihe mit dem großen preußischen Reformer, nach dem der Ort benannt ist. Und kurz darauf, hinter verschlossenen Türen, wird heftig gestritten. Verantwortungslos sei es, dass Platzeck im Bundesrat Hartz IV die Zustimmung verweigert habe, sagt Clement giftig, sekundiert von Otto Schily. Platzeck verbittet sich die Vorwürfe. HartzIV gehe an den Nöten im Osten vorbei. Wiederum drei Tage später, am Montagabend, verkünden Platzeck und Clement gemeinsam mit dem CDU-Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer, dass nun doch alles nicht so schlimm werde im Osten. Die Bundesregierung gibt zwar nicht mehr Geld aus als bis dahin geplant, dafür sollen die Mittel gezielter in Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit eingesetzt werden. Das ist, gemessen an den Nöten im Osten, nicht viel. Aber Platzeck hat die Gelegenheit genutzt, sich in diesem sehr kontrollierten Konflikt als Vertreter der ostdeutschen Interessen zu profilieren.

Wenn es um bundespolitische Themen ging, hat sich der Brandenburger in der Vergangenheit zurückgehalten. Auch in der SPD-internen Auseinandersetzung um die Agenda 2010 kämpfte er nicht an vorderster Front. Dennoch hat Platzeck Schröders Reformpolitik im Grundsatz stets unterstützt. »Man muss in der Politik, wenn man langfristig gestalten will, einiges aushalten. Dazu gehören auch schlechte Wahlergebnisse«, sagte er nach der Europawahl; da war die SPD in Brandenburg bereits hinter PDS und CDU auf den dritten Platz abgerutscht. Platzecks Bekenntnis klingt selbstloser, als man es von Politikern gewohnt ist. »Mein Gott«, antwortet er, »wir werden auf unsere Plakate keine Verteidigungsreden für die Agenda 2010 drucken. Aber wenn man in fünfzehn oder zwanzig Jahren Geschichtsbücher lesen wird, wird Schröder darin eine wichtige Rolle spielen.« Und deshalb ist der Kanzler selbstverständlich auch im Landtagswahlkampf willkommen.

In der vergangenen Woche war Schröder bereits da. Auf dem Sommerfest der Brandenburger SPD in Potsdam pries der Kanzler Platzeck als »das Gesicht eines frischen, modernen Landes«. Und auf die Frage, wie sie denn ihre potenziellen Wähler mobilisieren wollen, geben die Sozialdemokraten in Potsdam auch immer dieselbe Antwort: mit Platzeck. In den persönlichen Umfragewerten liegt der Ministerpräsident klar vor seinem Herausforderer und bisherigen Koalitionspartner, dem Christdemokraten Jörg Schönbohm. Platzeck, der »Repräsentant eines modernen Ostens« gegen Schönbohm, den schneidigen »General aus dem Westen« – dieses Duell liefert den Stoff, aus dem die SPD-Wahlkampfträume sind. Und wenn sich doch ein Langzeitarbeitsloser über Hartz IV erregt, wählt er halt die PDS; mit der würde die SPD nach der Wahl notfalls koalieren.

Das Sommerfest auf dem Gelände der ehemaligen Bundesgartenschau in Potsdam sollte aber noch eine andere Botschaft transportieren. Die SPD feierte sich selbst als »Brandenburgpartei« (Platzeck). Im Gegensatz zum Diaspora-Dasein der SPD in Sachsen haben die Sozialdemokraten hier tatsächlich Boden unter den Füßen. 13 von 14 Landräten stellt die SPD. Zwischen Grillständen und Hüpfburg drängen sich Ministerialbeamte, Feuerwehrmänner, Hochschullehrer und der Erfolgstrainer der Frauen-Fußballmannschaft von Turbine Potsdam, Bernd Schröder. Insgesamt 3000 Gäste sind gekommen, die Mittvierziger dominieren und zeichnen das Bild einer lebendigen Volkspartei, die in der milden Abendsonne lange Schatten wirft.

Fast macht das kluge Arrangement vergessen, dass die SPD auch in Brandenburg nur 7000 Mitglieder zählt und sich in vielen Gegenden nicht genügend Helfer finden, um Wahlplakate zu kleben oder Info-Stände zu beschicken. Klaus Ness, Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD, sieht darin weniger ein Problem als vielmehr einen Vorgeschmack auf die Zukunft. »Die SPD hat ihre Zeit als Massenpartei hinter sich«, sagt er. Vom Osten lernen heißt schrumpfen lernen: An die Stelle von ehrenamtlichem Engagement trete zwangsläufig eine zunehmende Professionalisierung. Plakate werden von kommerziellen Dienstleistern geklebt, Stellen im Parteiapparat nur noch mit akademisch geschultem Personal besetzt. Die Bindung an die Gewerkschaften ist ohnehin geringer als im Westen. »Die heutige Sozialdemokratie in Ostdeutschland«, so Ness, »ist nicht von Arbeitern gegründet worden.« Versteht man ihn richtig, sieht er darin durchaus eine Chance. Der Einwand des Parteienforschers Franz Walter, die SPD habe sich »nicht nur habituell, sondern auch politisch und sozial« von der »unterschichtigen Arbeiterklasse« entfernt, wird in Potsdam als sozialromantischer Einwurf aus der westdeutschen Vergangenheit zurückgewiesen.

Roland Henz müsste eigentlich fröhlich sein. Doch der Mann aus dem Saarland wirkt eher wie jemand, der gerade noch einmal davongekommen ist. Dabei ist Henz der erfolgreichste Sozialdemokrat – oder jedenfalls der erfolgreichste sozialdemokratische Wahlkämpfer – der vergangenen Monate. Mit 58 Prozent haben ihn die Bürger in Saarlouis zu ihrem Oberbürgermeister gewählt. Gegen den Trend und gegen den bislang amtierenden CDU-Amtsinhaber. »Manchmal muss ich mich noch zwicken«, sagt er. An 12000 Haustüren hat Henz seit Februar geklingelt, und die Erinnerung daran, was ihm dort alles entgegengeschleudert wurde über die rot-grüne Regierungspolitik, bedrückt ihn bis heute.

Henz ist nicht a priori ein Gegner der Schröderschen Agenda, »aber nichts hat bis jetzt funktioniert«, sagt er bitter. Warum er dennoch gewonnen hat? »Weil die Leute wissen, dass es keine Lücke gibt zwischen dem, was ich sage, und dem, was ich tue.« SPD-Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter hat Henz zu seinem Sieg in Saarlouis schriftlich gratuliert. Der designierte Bürgermeister hat ihm zurückgeschrieben. »Wenn er will, kann ich ihm gerne schildern, wie man das macht.« Vertrauen und Verlässlichkeit, betont er, seien das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit.

Mit 37 Prozent hat die SPD bei den Gemeinderatswahlen im Saarland vor fünf Wochen auch insgesamt vergleichsweise gut abgeschnitten. Für Heiko Maas, der im September Ministerpräsident werden möchte, ist das ein Hoffnungsschimmer, das Lebenszeichen seiner fast totgesagten Partei. Maas, 37, ist ein bekennender Linker, aber kein Traditionalist im herkömmlichen Sinne. Dennoch klingt die Rede, die er an diesem Abend im Salzbrunnenhaus in Sulzbach hält, mitunter wie das ferne Echo einer sehr alten, sehr traditionsbeladenen SPD. »Bei uns ist derjenige, der im Blaumann zur Arbeit geht, genauso wertvoll wie einer mit weißem Kragen«, ruft er und fordert die Rückkehr zu einer »aktiven Industriepolitik«. Nanotechnologie und Solarenergie gehören für ihn dazu genauso Kohle und Stahl. Noch immer ist der Bergbau mit 9000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber im Land; ein Drittel der Beschäftigten arbeitet in großindustriellen Strukturen.

»Ich habe hier überhaupt keine Chance, wenn ich die klassische Klientel nicht erreiche«, sagt Maas. Leidenschaftlich verteidigt er die Nacht- und Feiertagszuschläge für Schichtarbeiter. Als erstes Mitglied seines Schattenkabinetts hat er den DGB-Landesvorsitzenden berufen. »Der Schulterschluss mit den Gewerkschaften«, so Maas, »ist eine Voraussetzung, um Mehrheiten zu organisieren.« Auch der Einsatz von Oskar Lafontaine im saarländischen Wahlkampf gehört dazu. Aber es wäre zu einfach, Maas bloßes Kalkül vorzuwerfen oder ihn als Büttel Lafontaines darzustellen. Er hat sich bereits für die Einführung einer Bürgerversicherung, für eine Ausbildungsplatzabgabe und die Wiedereinführung der Vermögensteuer eingesetzt, als sich die SPD noch für die Neue Mitte begeisterte. Er ist davon überzeugt, dass die Sozialdemokratie ohne die »unterschichtige Arbeiterklasse«, von der Franz Walter spricht, keine Zukunft hat. Und seit Franz Müntefering den Kurs der SPD Schritt für Schritt neu justiert, fühlt sich Maas »in sehr vielen Punkten bestätigt«.

Der SPD-Vorsitzende ist im Wahlkampf daher willkommen. Den Bundeskanzler hat die Saar-SPD dagegen nicht ausdrücklich eingeladen. »Die Unterstützung der Saar-SPD bedeutet auch die Unterstützung eines gerechteren Reformkurses in Berlin«, wirbt Maas in Sulzbach. Roland Henz fomuliert denselben Gedanken direkter: »Wenn man Berlin einen drücken wollte, müssten sie im Saarland alle Maas wählen – weil er sich deutlich unterscheidet!«

Das Elend der SPD in diesen Tagen ist allgemein. Aber zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Potsdam und Dresden liegen mitunter mehr als 20 Prozentpunkte. Die Antworten, mit denen die Genossen versuchen, der eigenen Krise zu entkommen, verraten häufig mehr über die Befindlichkeiten am Ort als über das Unheil aus Berlin. Dennoch werden die Landtagswahlen im September auch einen Fingerzeig für den bundespolitischen Kurs der Partei geben. Wie sieht das Gesicht der SPD in Zukunft aus? Ähnelt es eher Platzeck – oder eher Maas? Die einen wähnen sich als Avantgarde – eine Volkspartei ohne Mitglieder. Die anderen sind tief verstrickt in eine bessere Vergangenheit. Nicht für jede Stimmungslage tragen Wolfgang Clement und Hartz IV die Verantwortung.
(Von Matthias Krupa)