Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 26.07.2004

Debatte über Folgen der Arbeitsmarktreform - Clement: Kein Massenumzug in Plattenbauten.

Wirtschaftsminister nennt Befürchtungen "realitätsfern" / Institut erwartet Hunderttausende Neueinstellungen
 
Berlin - Arbeitslose müssen nach Angaben von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement nicht damit rechnen, dass sie im Rahmen der rot-grünen Arbeitsmarktreform (Hartz IV) in großem Umfang zum Umzug in leer stehende Plattenbauten in Ostdeutschland gezwungen werden. Entsprechende Befürchtungen, die der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Mieterbund geäußert hatten, seien "frei erfunden und fern der Realität". Mehrere ostdeutsche Wohnungsbaugesellschaften hatten zuvor angekündigt, Tausende Wohnungen für die Empfänger des neuen Arbeitslosengeldes II bereitzuhalten. Der sächsische Landtagsabgeordnete Karl Nolle (SPD) erklärte: "Es wird zur Massenumsiedlung in leer stehende, unsanierte Plattenbauten kommen. Armen-Ghettos entstehen - ein sozialpolitischer Super-GAU."

Clement wies die Befürchtungen bei einem Besuch in Sachsen-Anhalt zurück. Im Sozialgesetz sei geregelt, dass jedem Arbeitslosen ein "angemessener" Wohnraum zustehe. Hierfür übernimmt der Staat die monatlichen Miet- oder Zinskosten. Dies bedeute, dass die Betroffenen, bis auf wenige Ausnahmen, in ihrer angestammten Umgebung bleiben können. Auch der Wirtschafts- und Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen, Harald Schartau (SPD), versicherte: "Keine Sorge, wir wollen nicht die größte Umzugsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik organisieren."

Allerdings ist im Hartz-Gesetz nicht eindeutig geregelt, welche Wohnungsgröße als "angemessen" gilt. Dies muss, falls Clement keine einheitliche Verordnung erlässt, von den lokalen Arbeitsagenturen geregelt werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) geht davon aus, dass als Grundlage die bisherigen lokalen Maßstäbe für Sozialwohnungen gelten. Demnach ist für eine allein stehende Person eine Wohnung bis zu 45 Quadratmeter "angemessen", und für einen Vier-Personen-Haushalt sind 84 bis 90 Quadratmeter in Ordnung. Bei einem Eigenheim schwanken die Angaben zwischen 120 und 130 Quadratmetern. Der DGB erwartet aber, dass der Verkauf "nur in wenigen Fällen tatsächlich erzwungen wird, zum Beispiel dann, wenn das Eigenheim einen erheblichen Wert hat".
Angesichts solcher und anderer Unklarheiten warnt die Union davor, dass die Arbeitsmarktreform scheitern könnte. "Das wird Maut plus Dosenpfand hoch zehn", sagte der stellvertretende Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz. Auch aus den Reihen der Regierungskoalition gab es erstmals Kritik an Clement: Werner Schulz, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen, sprach von einem "hochnotpeinlichen Fehlstart" der Arbeitsmarktreform.

Unterdessen rechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus Berlin damit, dass die rot-grüne Arbeitsmarktreform auf Dauer einen kräftigen Beschäftigungsboom auslösen wird. DIW-Chef Klaus Zimmermann glaubt, dass sich durch die bessere Vermittlung die Zahl der Langzeitarbeitslosen bis zum Jahr 2006 um mehrere Hunderttausende verringert.