Karl Nolle, MdL

Freie Presse Chemnitz, 31.07.2004

Die große Erschöpfung - Wie die Bindungskräfte der Gesellschaft schwinden

Leitartikel von Dieter Soika
 
Moderne Gesellschaften leiden an Desintegration und Individualisierung. Mit „Solidaritätserschöpfung" hat Franz Kamphausen, einst Bischof von Limburg, diesen Prozess der Auszehrung treffend beschrieben. Der Psychologe Erich Fromm erfand den Begriff „Sozialkitt", der jetzt austrocknet und zerbröselt. Die sozialen und moralischen Bindungskräfte des Gemeinwesens gehen verloren.

Die Entsolidarisierung entsteht einerseits aus Anspruchsdenken, Hedonismus und Werteverfall, ist andererseits aber auch Ausdruck tiefer Ratlosigkeit und wachsender Unsicherheit. Die Menschen beobachten den Verlust des Traditionellen, wissen aber nicht, was seinen Platz einnehmen wird. Von der Unsicherheit zur Angst ist es dann nicht mehr weit.

Von „Angstsparen" sprechen sonst kühl rechnende Wirtschaftsleute, wenn sie nach Erklärungen für Konsumzurückhaltung und die nicht anspringende Konjunktur suchen. So entsteht ein negativer Gleichklang von Wirtschaft und Gesellschaft: Der gegenwärtigen Schrumpfökonomie entsprechen Rücksichtslosigkeit und Egoismus im Alltag. Denn jeder will für sich den größten Vorteil und den höchsten Rabatt herausboxen. Dem totalen Preisverfall entspricht zugleich der verheerende Werteverlust. Denn alles hat seinen Preis und scheint dennoch nichts mehr wert zu sein, weil es alles irgendwo anders und irgendwann immer noch billiger geben wird.

Hohe Arbeitslosigkeit und schwache Konjunktur, da sind sich die Politiker quer durch alle Parteien einig, bedingen einander. Weil die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen so gering ist, entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Und die teure Arbeitslosigkeit ihrerseits entzieht dem Wirtschaftskreislauf Milliarden. Trotz dieser klaren Erkenntnis beschreitet die Politik aber einen geradezu paradoxen Weg der „Problemlösung". Durch die „Hartz IV"-Gesetze werden dem Konsum nämlich hochgerechnet 3,5 Milliarden Euro Kaufkraft entzogen. Zugleich verpflichtet der Staat seine Bürger, alle Rücklagen der Alterssicherung, vom Wohneigentum bis zum Sparguthaben, aufzuzehren. Mit fatalen ökonomischen und sozialen Folgen. Denn wenn der Bürger jetzt lernt, dass sich Vorsorge für das Alter und Fürsorge für Partner, Kinder oder Eltern nicht lohnen, sondern am Ende bestraft werden, muss er daraus seine Konsequenzen ziehen.

Auflösungserscheinungen werden daher noch mehr als bisher in Zukunft das soziale Klima bestimmen. „Hartz IV" ist ein verhängnisvoller Beschleuniger ohnehin betrüblicher gesellschaftlicher Entwicklungen.