Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND, 13.07.2004

Ein West-Hartz, aber kein Ost-Hartz

SPD-Führung erfährt im »Sondergebiet« Ablehnung bei Arbeitsmarktreform
 
Die Hartz-IV-Reform trifft in Ostdeutschland auf breite Ablehnung. Vor dem Krisengipfel beim Kanzler warfen auch SPD-Mitglieder der Bundesregierung vor, den Osten übergangen zu haben.

Gut war die Stimmung schon vorher nicht. »Viele Menschen im Osten«, sagt Hanjo Lucassen, »haben das Gefühl, in einer Sonderregion zu leben.« Sie fühlten sich benachteiligt, weil es seit 1996 bei den Löhnen keine Zuwächse mehr gebe, meint der sächsische DGB-Landeschef und SPD-Politiker. Auch auf anderen Gebieten herrsche die Wahrnehmung, dass »es sich nicht entwickelt«. HartzIV erscheint nun als Gipfel der Zumutungen: »Wie konnte es dazu kommen?«, fragt Lucassen: »Geht die Politik an Ostdeutschland vorbei?«

Fragen wie die von Lucassen, der für die SPD im sächsischen Landtag sitzt, aber wegen Kritik an deren Arbeitsmarktpolitik nicht wieder kandidiert, muss sich Bundes-Parteichef Franz Müntefering derzeit nicht nur in Dresden anhören, wo er an einer Podiumsdiskussion des Herbert-Wehner-Bildungswerkes teilnahm. Zudem gibt es nicht nur vereinzelte Kritik – auch wenn sie selten so pointiert geübt wird wie vom Dresdner Unternehmer Karl Nolle. Dass die Ostländer das Paket im Bundesrat geschlossen abgelehnt hätten, sei »kein Wunder«, sagt der SPD-Mann: »Das ist ein West-Hartz, kein Ost-Hartz.«

Die Kritiker von HartzIV verweisen auf nackte Zahlen. Die Reform zielt auf die Vermittlung von Arbeitslosen. In Sachsen gibt es jedoch 220000 Langzeitarbeitslose und nur 20000 offene Stellen, sagt Nolle. Solche Zahlen hätte man »einfach ermitteln können«. Ein »Gesetz für Ostdeutschland« sei denkbar gewesen: »Aber man hat darüber hinweg regiert.«

Bei der SPD-Führung treffen solche Bedenken auf Unverständnis. Vor dem für gestern Abend anberaumten Krisengipfel des Bundeskanzlers mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten sagte Müntefering in Dresden, Hartz IV sei beschlossen und würde nicht mehr verändert. Er warnte vor einer Entwicklung, bei der »die halbe Republik dagegen arbeitet«. Die Ost-Länder müssten die gesamtgesellschaftlichen Interessen im Blick behalten, so der SPD-Chef. Zudem helfe HartzIV, vorhandene Reserven zu erschließen: »Es gibt in diesem Land viel mehr Arbeit zu heben.«
Vor eben dieser Gleichsetzung der Situation in Ost und West wird Müntefering auch in der eigenen Partei gewarnt. »Die Arbeitslosigkeit in Castrop ist schlimm«, sagt Lucassen, aber »sie ist nicht die gleiche wie in Hoyerswerda.« Ostdeutsche Arbeitslose seien meist länger ohne Stelle und verfügten über ein geringeres Vermögen. Zudem würden viele potenzielle Empfänger von ArbeitslosengeldII derzeit Arbeitslosenhilfe beziehen. Ihnen droht eine massive Schlechterstellung: »Die Situation im Osten ab Anfang 2005«, sagt der Gewerkschafter, »wird wesentlich bitterer als im Westen.«

Solche Kritik ist inzwischen verbreitet – auch wenn sich die Parteien dabei taktisches Kalkül vorhalten. So warf Sachsens SPD-Landeschef Thomas Jurk dem CDU-Ministerpräsidenten Georg Milbradt »Scheinheiligkeit« vor, weil dieser im Bundesrat Regelungen ablehnte, denen er im Vermittlungsausschuss einst zugestimmt habe. Die PDS, die Hartz IV ein Gesetz für die »politische Schrottkiste« nennt, erinnerte im Gegenzug an Äußerungen Jurks, bei denen dieser bei HartzIV die »soziale Balance geschafft« sah.

Die Hartz-IV-»Ablehnungsfront« in der SPD ist derweil nicht auf Sachsen beschränkt. Auch Jens Bullerjahn, Fraktionschef in Sachsen-Anhalt, übt Kritik. HartzIV gehe an den Bedürfnissen von Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit vorbei. Für bestimmte Gebiete und Altersgruppen müsse nachgesteuert werden. Bullerjahn rief andere Landesverbände zu mehr Profil auf. Rückhalt kommt von PDS-Fraktionschef Wulf Gallert, der eine »breite politische und gesellschaftliche Front« erkennt, die gegen die »gesellschaftlichen Verwerfungen« vorgehen müsse. Hauptkontrahenten dabei: CDU und Bundes-SPD.
(Von Hendrik Lasch, Dresden)