Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 16.08.2004

"Lieber Gerd, die Lage ist ernst"

Brandenburgs SPD-Chef Platzeck erklärt auf dem Landesparteitag dem Kanzler die Sorgen der Ostdeutschen
 
"Lieber Gerd", sagt Matthias Platzeck. Und dann macht es für viele Minuten den Eindruck, als rede Brandenburgs Ministerpräsident nicht zu den 150 Delegierten des SPD-Landesparteitags, nicht in die vielen Kameras, nicht zu den Wählern, die am 19. September den Brandenburger Landtag mit Abgeordneten beschicken werden. Matthias Platzeck spricht nur zum Parteigenossen Bundeskanzler. Der hat soeben in einer wütenden Rede seine Reformpolitik verteidigt, aber irgendwie an seinen ostdeutschen Parteifreunden vorbeigeredet.

"Lieber Gerd", sagt Matthias Platzeck nun, "die Lage ist ernst". "Lieber Gerd", sagt Matthias Platzeck auch, "hier in Ostdeutschland droht etwas ins Rutschen zu geraten, und zwar sehr grundsätzlich". Gegenwärtig gehe es "in fast dramatischer Weise" darum, ob Ost und West "wieder weiter auseinander treiben".

Schon bei seiner Ankunft im Kongresszentrum von Brandenburg an der Havel hat der so angesprochene Bundeskanzler Gerhard Schröder etwas von der Wut der Ostdeutschen mitbekommen. Draußen stehen etwa 100 Demonstranten. Sie pfeifen, grölen, fordern: "Schröder muss weg." Die Stimmung ist aufgeheizt. Und im Saal ist sie nervös. Denn der Wahlkampf für den Urnengang im Land am 19. September ist für die SPD bislang alles andere als optimal verlaufen.

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Volksfront

Kanzler Schröder hat CDU/CSU und PDS als "neue Volksfront" bezeichnet. Den Kampfbegriff aus den 30er Jahren verwendeten bisher meist Konservative gegen Linke. So warnte Theo Waigel (CSU) 1998 vor einer "Volksfront" aus SPD, PDS und Grünen. Auch SPD und PDS in ostdeutschen Landesregierungen werden von der Union oft als "Volksfront" bezeichnet.

Historisch meint der Begriff den 1935 von der Kommunistischen Internationalen angestrebte Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialisten und Linksbürgerlichen gegen den Faschismus. dpa
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Es dauert, bis Gerhard Schröder zum Thema kommt. Zunächst redet er ausführlich über Außenpolitik. Erst als die Delegierten unruhig werden, spricht er über Hartz IV. Und wie. Wütend zieht er über das "abartiges Bündnis" von CDU und PDS her, über die "neue Volksfront", und wirft beiden Parteien "blanke Unvernunft" und einen "gnadenlosen Populismus" vor, bei dem einem "richtig übel" werden könne.

Weitere Korrekturen an der Hartz-Reform, wie sie etwa der Aufbau-Ost-Minister Manfred Stolpe laut gefordert hat und für die auch Matthias Platzeck leise eintritt, lehnt Schröder ab. Er verteidigt die Reform, spricht von einer "fairen Lösung" bei den Anrechnungsgrenzen. Lehnt deren Erhöhung ab, weil der "eherne Grundsatz" gelten müsse, dass staatliche Leistungen nur gezahlt würden, "wenn Bedürftigkeit da ist". Und eben diese staatlichen Leistungen würden auch von Verkäuferinnen und Arbeitern gezahlt, die wenig verdienen, die kein großes Vermögen aufbauen konnten. Aber, so versichert der Bundeskanzler, er sei "der letzte, der ehrliche Sorgen nicht ernst nimmt".

Genau daran jedoch haben die Delegierten ihre Zweifel, auch Matthias Platzeck. Denn aus Ost-Sicht gibt es da einiges zu bedenken, und so wendet Platzeck sich direkt an seinen "Freund". Versichert diesen erst seiner "Solidarität in schwierigen Zeiten" und findet dann deutliche Worte. Die Menschen im Osten könnten "vielfach nicht erkennen", welchen Beitrag Hartz IV zum Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit leistet, sagt er. "Viel Geduld" sei notwendig, "viel Erläuterung" und vor allem "sehr viel Einfühlungsvermögen". Hartz IV verstehe sich in Ostdeutschland eben nicht von selbst. Die Reform sei "gut gemeint", sagt Platzeck, "aber, Gerd, so wird es noch nicht wahrgenommen". Die Leute, erklärt Platzeck dem Kanzler, fragen sich: "Wo sind die Arbeitsplätze, in die sie besser vermittelt werden sollen?"

Platzeck trifft den richtigen Ton, sein Landesverband schart sich geschlossen hinter ihm. 95 Prozent der Delegierten bestätigen ihm im Amt des Landesvorsitzenden. Denn eines wissen sie ganz genau: Nur der beliebte Ministerpräsident kann die ob Hartz IV völlig verunsicherte Partei in sechs Wochen vor dem Machtverlust retten.
(von Christoph Seils)