Karl Nolle, MdL

Cicero - Magazin für politische Kultur, 09.08.2004

Lafontaine ist kein Wehner

 
Die Umfragewerte sinken, die Gewerkschaften begehren auf, der Bundeskanzler büßt den Rest seiner einst strahlenden Autorität ein. Die letzten Tage der Regierung Brandt. Der Publizist Klaus Harpprecht, ehemals Berater von Brandt, erinnert sich.

Herbst 1973: Das bescheiden-liebenswerte Biedermeier-Palais hockte behaglich hinter den alten Bäumen des Parks, die Ludwig Erhards patzigen Beton-Bungalow vor den Blicken gnädig verbargen. Provisorium Bonn? Die Geschichte der Deutschen schien sich für unabsehbare Zeiten in dem Beamten-, Bürger-, Professoren- und Studenten-Städtchen einquartiert zu haben - und sie fühlte sich ganz wohl in der vermeintlichen Beengtheit, die in Wahrheit offen für die Welt war.

Dennoch wehten Vorboten einer merkwürdigen Unruhe durch das Schlösschen. Manchmal schien der Boden - ob dicke Teppiche oder knarrendes Parkett - leise zu schwanken. Ein erstes Vibrieren kommender Krisen. Das Stimmungsbarometer der Umfragen freilich läse ein sozialdemokratischer Kanzler unserer Tage nur mit staunend aufgerissenen Augen: Die Zahl der Zufriedenen mit der Bundesregierung gegenüber dem Vorjahr war von 37 auf 28 Prozent gefallen, die Zahl der Unzufriedenen lag aber nur bei 18 Prozent; und mit Willy Brandt und seiner Politik waren einverstanden: 53 Prozent; nicht einverstanden: 29 Prozent; unentschieden: 24 Prozent.

Die Geschicke der SPD sind den Gewerkschaftsbossen gleichgültig

Noch weit in der Ferne schrillte ein erstes Alarmsignal: Die ÖTV verlangte durch ihren strotzenden Vorsitzenden Kluncker Lohnsteigerungen in zweistelliger Höhe. Die Gemeinden und die Länder zeigten sich willig, in die Knie zu gehen - und prompt sanken sie nieder, als im Februar 1974 vier Tage lang der Müll nicht fortgekarrt wurde. Keiner kümmerte sich um des Kanzlers Zorn.

Den dicken Kluncker ließen die Bonner Proteste kalt. Das Geschick der SPD (der er natürlich zugehörte) war ihm so gleichgültig wie drei Jahrzehnte später seinem linksgrünen Nachfolger, dem Großfunktionär Frank Bsirske. Die historische Gemeinsamkeit der SPD und der Gewerkschaften wurde von der Mehrheit der Bonzokraten stets als das Privileg verstanden, die Partei nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Ein ums andere Mal gaben die Bürobosse zu verstehen, dass Wahlen ohne ihre Organisationsmacht und ohne ihr Geld nicht zu gewinnen seien.

Durch manch aufgeklärten Kopf schlierte 1973/74 eine Ahnung, dass die einseitige Abhängigkeit dem Konzept und der Realität einer Volkspartei widersprechen könnte. Die Hellsten begannen sich zu fragen, ob die überbetriebliche Mitbestimmung und das Prinzip des "Flächentarifs" nicht Elemente eines heimlichen Ständestaates seien, der sich hinter der prangenden Fassade unserer Demokratie verbarg.

Rückzugsgefechte

Der Fall Zwickel - im Mannesmann-Prozess - warf ein scharfes Schlaglicht auf Doppelleben (und -moral) unserer politischen Gesellschaft. In der zweiten Amtsperiode Gerhard Schröders ist der Prozess einer (durchaus nicht freiwilligen) Emanzipierung der Sozialdemokratie von den Gewerkschaften unaufhaltsam geworden. Weist sich damit die SPD nicht selber das Geschick des ewigen Verlierers zu?

Auf lange Sicht zeichnet sich eine andere Entwicklung ab: Jürgen Peters, Zwickels ungeliebter Erbe als Chef der IG-Metall, und Klunckers arroganter Enkel Frank Bsirske im Vorsitz der Sammel-Gewerkschaft Ver.di agieren mit Gereiztheit, um ihre Schwächen zu überspielen. Die Mitglieder laufen ihnen rascher davon als der SPD. Rückzugsgefechte. Sie haben längst den Part der Reaktionäre übernommen.

Im Herbst 1972 ließen sich die ersten Signale erkennen. Der Beitritt der Bundesrepublik (und der DDR) zu den Vereinten Nationen stand an. Während Brandt selbst sich draußen in Long Island für den Auftritt vor dem Forum der Völker rüstete, die Nachricht von Wehners grandiosen Taktlosigkeiten - "… der Herr badet gern lau": Ort der Demontage: ausgerechnet Moskau, die Stadt, in der unser Zuchtmeister unter Stalin die tiefsten moralischen Demütigungen erlitt. Auftakt einer politischen Hinrichtung durch die zynische Zertrümmerung von Brandts Autorität.

Die Sozialdemokratie wird die Krise überleben

Die Weigerung des Kanzlers, den Kampf aufzunehmen, von dem Fraktionschef bedingungslose Unterwerfung oder den Rücktritt von seinen Ämtern im Bundestag und in der Partei zu fordern: der Anfang vom Ende. Es brauchte nur noch den spießigen Spion als lächerlichen Vollzugsgehilfen der Geschichte. Damals notierte der Autor dieser Zeilen in einem Memorandum für Willy Brandt, dass sich in der Partei die Neigung zur Flucht in die Opposition und die Lust an der Ohnmacht von Neuem rege.

Zu Wehner, dem "Lutheraner von links", der aus dem gleichen sächsisch-thüringischen Begabungs- und Neurosenfeld wie der Reformator stamme: den beiden gemeinsam die Anfälligkeit für Hysterien, die nichts anderes als neurotisierter Machtwille seien. Schröders Glück, dass Lafontaine, der sein Wehner in Gestalt eines jesuitisch-spitznäsigen Nationalschulmeisters zu werden drohte, das Feld aus freien Stücken räumte.

Jetzt, da der Kanzler und seine Partei den Preis für die Emanzipation von den Gewerkschaften und für die Reform des Sozialstaates zu zahlen haben, wittert das Parteifreundchen eine Chance, die SPD von links aufzurollen. Abmarsch ins Sektenwesen: Mehr wird daraus nicht. Die Sozialdemokratie wird diese Krise - am Ende gewandelt zu einer Demokratischen Partei amerikanischen Musters - ganz gewiss überleben, wenn sie sich auf Brandts Tapferkeit besinnt, der nach seinem Sturz als Chef der SPD, der Internationale, der Nord-Süd-Kommission erst recht eine Weltfigur wurde.
(von KLaus Happrecht)