Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 25.08.2004
Ein schwerer Fall von Gedächtnisschwund
Dokumente belegen: Die Spitze des sächsischen Wirtschaftsministeriums war über das umstrittene Sparmodell der Qualifizierungsgesellschaft informiert
Sie sind nicht zu beneiden, die sieben CDU-Mitglieder im Sachsenring-Untersuchungsausschuss des Landtages. Seit Monaten schlagen sie sich die Zeit um die Ohren – meist einen ganzen Tag in der Woche: gelangweilt, genervt. Die „Bild“-Zeitung lenkt nur für Minuten ab. Die Zahl der Computerspiele auf dem Laptop ist begrenzt. Der Weg zur Kaffeekanne hilft den Beinen, kaum dem Kopf. Einer gibt bei der Anhörung von Erhard Kaufmann, Referatsleiter im sächsischen Wirtschaftsministerium (SMWA), dann auch freimütig zu: „Ich war gerade eingeschlafen.“
Gut 30 Sitzungen ziehen sich hin – ursprünglich ging es um eine vermeintliche Spendenaffäre, seit Juni 2004 dominiert der Skandal um die Qualifizierungsgesellschaft QMF die Sitzungen. Wer von den Staatsdienern hat was gewusst oder selbst befördert? Gab es politischen Druck, um die Aktion durchzusetzen, bei der möglicherweise 21 Millionen Euro zweckentfremdet wurden – vorbei an der Europäischen Kommission?
Das fragen vor allem die Oppositionsvertreter im Gremium – mit mäßigem Erfolg. Keiner war’s gewesen, und Zeugen leiden unter kollektiver Gedächtnisstörung. „Das ist mir nicht mehr erinnerlich“, heißt es juristisch unverfänglich, obwohl viele Zeugen besser mit Akten versorgt sind als der Ausschuss selbst. Auf 70 000 Seiten wird das von der Staatsanwaltschaft im Mai beschlagnahmte Material geschätzt, und wer das Papier durchforstet, bekommt schnell einen ganz anderen Eindruck. Viele wussten detailliert über die Tricksereien Bescheid. Der SZ vorliegende Papiere belegen:
1) Ziel jener Qualifizierungsgesellschaft QMF war von Anfang an die Einsparung von Personalkosten beim Dresdner Chiphersteller ZMD und später auch beim Autozulieferer Sachsenring AG – zu Lasten des Steuerzahlers. Das widerspricht den Förderbestimmungen der EU. Brüssel wurde deshalb bewusst unvollständig informiert.
2) Entgegen wiederholter Aussagen im Untersuchungsausschuss war die Spitze des sächsischen Wirtschaftsministeriums über die Vorgehensweise zumindest informiert. Dokumente zeigen ferner, dass nicht nur „einzelne, zum Teil ausgeschiedene Mitarbeiter“ beteiligt waren, wie es Wirtschaftsminister Martin Gillo am 26. Mai vor dem Landtag erklärt hatte. Involviert waren weit mehr – auch maßgebliche Stellen im Hause Schommer.
Prinzip Personalparkplatz
Spätestens 1998 hatte der Dresdner Chiphersteller ZMD ein Problem: Zu viele Leute für zu wenig Aufträge. Am 18. September 1999 erfährt der damalige Wirtschaftsstaatssekretär Wolfgang Vehse von der mit der ZMD-Privatisierung beauftragten Sannwald & Jaenecke GmbH in München, dass die Firma vor „akuten Liquiditätsproblemen“ steht. Entscheidungen seien zwingend notwendig, „um einen Konkurs im Laufe des Oktobers abzuwenden“.
Andere Firmen müssen in so einem Fall Stellen streichen oder sogar Insolvenz anmelden. Beim Staatsbetrieb ZMD, einst das Herzstück der DDR-Mikroelektronik, passiert etwas anderes. Vertreter von Sachsenring, die Berater Sannwald & Jaenecke, Ministerialdirigenten und Ministerialräte ersinnen eine neue Lösung: Sie wollen Personalkosten einsparen „durch Herausnahme von vorerst nicht benötigten Arbeitnehmern aus dem Arbeitsprozess“, wie es im Protokoll einer Besprechung vom 18. September 1998 zur ZMD-Übernahme durch die SAG und deren Förderung heißt.
Einem im Wirtschaftsministerium kursierenden „Memorandum“ für ZMD zufolge übernimmt die Sachsenring AG 280 bis 300 ZMD-Mitarbeiter. Für die 140 Freigestellten würden „alsbald Übernahmeverträge mit einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft abgeschlossen“. Nach zwei Jahren werde ZMD bei positiver Auftrags- und Ertragslage „Mitarbeiter wieder einstellen“. Die entsprechende „streng vertrauliche Tischvorlage“ von Ex-Minister Kajo Schommer (CDU) vom 6. November 1998 führt diese Übernahmeverträge unter den „Leistungen des Verkäufers“ als „Verpflichtung“ an. Die Aktion war also eine Aktion des Freistaates – eine verdeckte Subvention.
Das Modell rechnet sich. Der damalige ZMD-Chef Detlef Golla kann seinem Aufsichtsrat am 13. Mai 1999 frohe Kunde für das erste Quartal überbringen. „Die Personalkosten konnten über den Einsatz der Qualifizierungsgesellschaft deutlich entlastet werden. Das operative Ergebnis zeigt demzufolge ein Plus von DM 0,5 Mio“, steht im Protokoll.
Das Ministerium rechnet die möglichen Szenarien für ZMD durch: Eine Weiterführung mit der „staatlichen Eigentümerkonstellation“ würde 111 Millionen DM kosten und „keine längerfristige Alternative sein“. Eine Gesamtvollstreckung käme den Freistaat 60 Millionen DM teuer und eine Privatisierung lediglich 25 bis 36,16 Millionen DM – je nachdem, was von der EU genehmigt würde. Schommer bittet am 6. November 1998 in seiner vertraulichen Vorlage darum, „die Angelegenheit in der Kabinettssitzung am 10. 11. 1998 zur Beschlussfassung vorzulegen“. Mit der Privatisierung entledigt sich der Freistaat als ZMD-Eigner der Zahlung möglicher Abfindungen.
Vorbei an den EU-Prüfern
Das Dumme: Die EU erlaubt solche Subventionierung nicht. Sie könnte den Wettbewerb verzerren und so womöglich gesunde Betriebe in den Ruin treiben. Das „Gute“: Sie erfuhr es auch nicht. So enthielt die Mitteilung der Bundesregierung an die EU-Kommission vom 15. Juni 1999 zwar die wörtliche Aussage zum Umfang der Freisetzung von Mitarbeitern, die nach zwei Jahren wieder eingestellt werden sollten – aber nun ergänzt um die Passage „... eine Verpflichtung hierzu besteht allerdings nicht“. Dieser Zusatz ist nicht unerheblich, verlangen doch die Förderrichtlinien des Europäischen Sozialfonds, dass derart Weiterqualifizierte dem gesamten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen und nicht nur einem einzigen Betrieb.
Am 23. April 1999 werden Staatssekretär Vehse, fünf Abteilungen seines Hauses und das Finanzministerium informiert, was der Freistaat im Fall ZMD bei den Prüfern in Brüssel nicht erwähnen will: „den Vertragsabschluss zwischen dem Freistaat Sachsen und der Sachsenring Automobiltechnik AG zur Übernahme von ZMD“, „die Arbeitnehmermaßnahmen und deren Finanzierung im Rahmen einer Beschäftigungs-/Qualifizierungsgesellschaft“, „die Altgesellschafterleistungen (DM 29,0 Mio. usw.)“. Der gesamte Mitteilungsentwurf sei mit der BvS, der SAG „und den Abt. 1,4, 5, und 3 abgestimmt“ worden. Also: Alle wussten Bescheid, dass der EU etwas als förderbare Qualifikation verkauft werden sollte, was nur ein Personalparkplatz auf Kosten der Allgemeinheit war.
Außerdem trägt ein Schreiben des Referates 34 im Wirtschaftsministerium vom Dezember 2000 zum Restrukturierungskonzept der ZMD/SAG auch das Signum von Schommer. Was der Minister abzeichnet, klingt eindeutig: Das Papier sieht bei „Übernahme freigesetzter Mitarbeiter in die Qualifizierungsgesellschaft (QMF)“ Einsparmöglichkeiten bei „Personalkosten“ von „4,0 Millionen Euro (Mitarbeitereinsparung 137)“ vor.
Wer wusste was?
Wer wusste was? Das ist die Kernfrage, mit der sich der Untersuchungsausschuss im Landtag seit Monaten befasst. Zumindest für Hans Neufischer, beschuldigter Ex-Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium, ist klar: Viele wussten alles. Er verlangt in einem Schreiben an Ministerpräsident Milbradt (CDU) vom 14. Juli 2004 eine Richtigstellung der Regierungserklärung von Wirtschaftsminister Gillo (CDU). Der hatte den Bildungsträger QMF verdächtigt und „einzelne, zum Teil bereits ausgeschiedene Mitarbeiter des SMWA, die an dem Antrags- und Bewilligungsverfahren beteiligt waren“.
Für Neufischer „war die Weiterbildung und Qualifizierung bei der QMF keineswegs eine isolierte Maßnahme, welche auf die Initiative der Abteilung 5 des SMWA durchgeführt wurde“. Das Gesamtkonzept sei „unter maßgeblicher Beteiligung der damaligen Verantwortlichen auf Ministerebene entwickelt“ worden. Das muss auch Georg Milbradt sorgen, er war damals Finanzminister.
Für Peter Manthey, Anwalt des Ex-QMF-Chefs Helmut Stachel, wurde das Konzept für die Auffanggesellschaft nicht von seinem Mandanten erdacht, sondern „mindestens zwei Ebenen höher“. Für diese Behauptung spricht, dass sich Sachsenrings einziger ernsthafter Konkurrent um ZMD, der US-Technologieriese General Atomics, bei der Kosteneinsparung des gleichen Strickmusters bedienen wollte. Schwer zu glauben, dass die weit entfernten Amerikaner allein auf die Idee mit dem Beschäftigungsparkplatz gekommen waren. Für „bis zu 200 Beschäftigte“ sollten „vorerst zwei Jahre“ Qualifizierungen stattfinden, die „die Personalkostenstruktur des Unternehmens in diesem Zeitraum entlasten“, heißt es im Schreiben des General-Atomics-Vorsitzenden Neal Blue vom 15. Oktober 1998 an die „ZMD-Händler“ Sannwald & Jaenecke. Nähere Angaben wollten die General-Atomics-Eigner in San Diego gegenüber der SZ nicht machen.
Die Warner
QMF war „Schema F“. Sachsenring selbst nutzte es 2001 im Rahmen eines Restrukturierungskonzepts. Kostenreduzierung laut Dresdner und Commerzbank: 6,4 Millionen Euro durch Freisetzung von 186 Leuten in die QMF.
Und doch gibt es Warnhinweise. So macht die Verwaltungsstelle Dresden den ZMD-Betriebsrat bereits am 7. Mai 1999 auf mögliche Rechtsverstöße aufmerksam und fragte: „Duldet der Betriebsrat wissentlich, dass Kollegen, die z.Z. in der QMF beschäftigt sind, während ihrer theoretischen Ausbildung unbezahlte Mehrarbeit für ZMD leisten?“ und „Werden QMF-Theoriezeiten für praktische Tätigkeit zweckentfremdet?“ Keine Antwort.
Trotz deutlicher Aktenlage bleiben Fragen – auch die, wie weit eine Regierung gehen darf, um Firmen zu halten und Jobs zu sichern. Vielleicht sieht ja die CDU im Landtags-Untersuchungsausschuss nun mehr Handlungsbedarf – Gelegenheit ist schon heute bei der Anhörung von Regierungschef Georg Milbradt.
(Von Michael Rothe)