Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, Radeberg Lokales, 28.08.2004

Wahlkampf: Wer unfair mit "v" schreibt...

Bildungspolitische Probleme und das Thema Abwanderung beim SPD-Gespräch
 
Radeberg. Nur der Vatikan war noch schlechter. Ostdeutschland nach der Wende war das Land der Welt, in dem - abgesehen vom Vatikan -die wenigsten Kinder geboren wurden. Nur einer von vielen interessanten Fakten und Zahlen, die am Donnerstagabend in der Radeberger Likörfabrik beim "Radeberger Gespräch der SPD" zum Thema Abwanderung aus Sachsen zu hören waren. Der hiesige SPD-Landtagskandidat Christoph Klaer hatte sich dazu mit Karl Nolle einen echten Fachmann zum Thema eingeladen, denn Nolle ist wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion und leitet in Dresden selbst ein Unternehmen, eine Druckerei mit immerhin 75 Mitarbeitern.

Und die Zahlen waren regelrecht erschreckend, die Nolles wissenschaftliche Mitarbeiterin Ivonne Lehmann recherchiert hatte. Zum Beispiel: Zwischen 1989 und 1992 haben so viele Sachsen den Freistaat verlassen, dass im Prinzip die komplette Stadt Chemnitz entvölkert wäre. Seit der Wende, sagen die Zahlen weiter, hat jeder vierte Sachse seine Heimat verlassen und ist in die alten Bundesländer ausgewandert. Besonders fatal ist dabei, dass der "Durchschnitts-Wegzieher" weiblich, gut ausgebildet und zwischen 18 und 35 Jahren alt ist. "Aber mit jeder jungen Frau geht auch mindestens ein ungeborenes Kind mit weg, das Sachsen dann wieder fehlen wird", so Karl Nolle.

In der Bevölkerungs-Statistik, aus der Nolle zitierte, zeichnet sich zudem eine Entwicklung ab, die Nolle die Sorgenfalten auf die Stirn trieb. "Denn in etwa vier Jahren wird eine Entwicklung einsetzen, die Sachsen vor ungeahnte Probleme stellen wird", so Nolle. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Geburtenzahlen rasant in die Höhe gegangen. Genau diese damals Geborenen werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Just zu diesem Zeitpunkt kommt aber der "Nachwende-Geburtenknick" in Sachsen auf dem Arbeitsmarkt an. Die Zahl der Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz und wenig später einen Arbeitsplatz suchen, wird rapide sinken. "Die Unternehmen in Sachsen werden einen massiven Arbeitskräfte- und vor allem Lehrlingsmangel erleiden müssen", blickt Nolle voraus. Und fordert von Sachsens Regierung Konzepte, um dieses Problem anzugehen. "Aber bisher sind wir da auf taube Ohren gestoßen", nennt Karl Nolle seine Erfahrungen.

Gegensteuern sei angesagt, unterstreicht die SPD. Und Nolle sagte den gut zwanzig Radeberger Zuhörern auch, wie er sich einen Ausweg vorstellen könnte. Zum Beispiel die Förderpolitik im Freistaat müsse sich ändern. Nicht immer nur in Neuansiedlungen dürfe Geld fließen, auch bestehende Unternehmen - vor allem der Mittelstand - müssten gefördert werden. Denn wenn Sachsen in Zukunft überleben will, "müssen die Unternehmen auch mal in Forschung und Marketing investieren können", findet Nolle. Und fasste seine Forderung in einem Satz zusammen: "Mehr Intelligenz statt Beton!" Das fange übrigens schon bei einem modernen Bildungssystem an, das derzeit in Sachsen noch lange nicht in Sicht sei.

Ein modernes Bildungssystem ist deshalb auch eines der wichtigsten Wahlkampfthemen Christoph Klaers, wie er am Donnerstagabend noch einmal klarstellte. Und dass sich in diesem Bereich dringend etwas tun müsse, machte Klaer dann mit einem Beispiel fest, das die Anwesenden zum bitteren Schmunzeln brachte. Eines von Klaers Wahlplakaten in Radeberg war jüngst von Unbekannten beschmiert worden. "Klaer ist unvair", war da auf dem Plakat zu lesen - "und wenn Leute fair mit V schreiben, ist wohl dringender Handlungsbedarf angesagt", konnte sich Klaer ein Grinsen nicht verkneifen. Und schob gleich ernsthafte Forderungen nach. Die Differenzierung in Mittelschul- und Gymnasialausbildung solle nicht mehr bereits mit der fünften, sondern erst nach der achten Klasse erfolgen. "Denn die Statistik zeigt, dass mit der frühzeitigen Differenzierung nach der vierten Klasse nicht selten Kinder aus sozial schwierigen Elternhäusern keine Chance aufs Gymnasium haben", blickte Karl Nolle zur Ergänzung der Forderung erneut ins Zahlenmaterial des Statistischen Landesamtes. Außerdem - und das liegt Nolle als Unternehmer ganz besonders am Herzen - außerdem solle endlich wieder die Berufsausbildung mit Abitur eingeführt werden. "Und überhaupt muss die Bildung stärker mit der Wirtschaft verzahnt werden", so Nolle. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge der modernen Industriegesellschaft müssten viel stärker in den Schulen vermittelt werden, forderte der SPD-Mann.

Nur durch solche Veränderungen, beschrieb Nolle dann abschließend seine Sicht, könne Sachsen die Chancen nutzen, die sich neben vielen Problemen aus der Bevölkerungsentwicklung ergeben.
(Jens Fritzsche)