Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 20.09.2004

Ein politisches Beben - Im Landtag werden die Karten neu gemischt

Die Zeit der CDU-Alleinherrschaft ist vorbei, und die demokratischen Parteien stehen vor einer großen Herausforderung
 
Entsetzen bei der CDU, Enttäuschung bei der SPD, Genugtuung bei PDS und FDP, später Jubel bei den Grünen und zugleich überall Bestürzung über den Erfolg der rechtsextremen NPD. Ein politisches Beben – das ist am Sonntagabend der dominierende Eindruck.

CDU: Viel zu spät auf die Stimmung im Land reagiert

„Noch schnell einen Schluck, bevor der Wein nicht mehr schmeckt.“ Der Besucher der CDU-Wahlparty im Landtag behält einen Moment später mit seiner bitteren Vermutung Recht. Die ersten Prognosen flimmern über die Bildschirme, und für eine ganze Minute bleibt es still im Raum 600. Betretene Mienen, wohin man schaut. Die Abgeordnete Friederike de Haas kämpft erst um Fassung und dann mit ihren Tränen. „13 Prozent Verlust, das habe ich nicht erwartet.“ Und sie spricht als Erste aus, was mancher in der Runde zunächst nur denkt. „Das hat Auswirkungen, wir müssen uns für die Zukunft etwas einfallen lassen.“

Ein Teil der anwesenden Parteiprominenz rettet sich erst einmal in Zweckoptimismus. „Das ist eine Prognose, wir sollten das Ergebnis abwarten“, wehrt Wissenschaftsminister Matthias Rößler Fragen ab. Später am Abend wird er erklären, die Leute hätten den Protest gewählt; das sei ein „Alarmzeichen für die etablierte Politik“. Zu diesem Zeitpunkt hat das öffentliche Wundenlecken bei den Christdemokraten jedoch längst begonnen. Klaus Leroff , der nach vierzehn Jahren sein CDU-Landtagsmandat verliert, hält es nicht länger zurück. „Wir haben auf die Stimmung im Land viel zu spät reagiert.“ Er schüttelt wütend den Kopf. Neben der SPD hätte sich auch die CDU nicht rechtzeitig auf die Diskussion um Hartz IV eingestellt. Mit Blick auf seine Fraktionskollegen, die das Parlament nun verlassen müssen, meint er lakonisch: „Die CDU muss sehen, wie es weitergeht – ohne die Alten und ohne die Profis.“

„Es gibt eben keinen Automatismus“, bedauert CDU-Vize Gisela Claus und versucht bei diesen Worten möglichst tapfer auszusehen. Und sie räumt ein, dass die Schwierigkeiten rechtzeitig absehbar waren. „Seit Juli wehte uns der Wind doch schon ins Gesicht.“ In den Gängen wird unterdessen eifrig diskutiert. Biedenkopf? „Mit dem wäre uns das genau so passiert“, wird beteuert. Köpfe-Rollen in den eigenen Reihen? „Die nächsten Tage werden sicher noch viel interessanter als der heutige Abend.“ Der neue Koalitionspartner? Die SPD zuerst, vielleicht aber auch die Liberalen. „Das muss Milbradt mit den Parteigremien klären.“

Der CDU-Spitzenkandidat kommt 18.48 Uhr ins Parlament. Georg Milbradt wirkt konzentriert, aber auch angeschlagen. Die nächsten Stunden wird er in TV-Kameras schauen und nach Erklärungen suchen. Als er den überfüllten Vorsaal betritt, fängt jemand an zu klatschen. Er hört bald auf. Milbradts Ministerkollegen sind auch vor Ort. Auch sie hören diesen Satz: „Der Glanz für Sachsen ist weg.“ Justizminister Thomas de Maizière meldet sich als erster zu Personalfragen: „Es gibt definitiv keine Milbradt-Debatte“, erklärt er stoisch. In dem Moment hat er sie für einige aber gerade eröffnet.

PDS: Jubel, obwohl das Wahlziel 25 plus x verfehlt wird

Als ein Fernsehjournalist wenige Sekunden nach Schließung der Wahllokale die ersten Prognose-Grafiken auf dem Bildschirm kommentiert, bricht im Fraktionssaal der PDS im Landtag Jubel und Applaus beim Stichwort „absolute Mehrheit der CDU gebrochen“ aus. Spitzenkandidat Peter Porsch küsst im Blitzlichtgewitter seine Frau. Mit dieser Schlappe für die CDU sei das wichtigste Wahlziel erreicht, spricht Porsch kurz darauf in die Mikrofone. „Und wir sind besser geworden, bleiben zweitstärkste Kraft in Sachsen.“

Dass die CDU ihre absolute Mehrheit verloren hat, schreibt Porsch vor allem seiner Partei zu: „Wir haben dazu den größten Beitrag geleistet.“ Kein Wort darüber, dass die PDS ihr nominelles Wahlziel verfehlt hat: 25 Prozent plus x hatten sich die Sozialisten vorgenommen; die ersten Prognosen sagen 22,5 Prozent voraus. Porsch ignoriert das lieber. Er sei „eigentlich nicht“ überrascht vom Abschneiden seiner Partei, sagt Porsch. Viele hätten ihm im Wahlkampf Mut gemacht: „Ich bin davon ausgegangen, dass es nicht schiefgehen kann.“ Die Stasi-Debatte um ihn habe keine Rolle gespielt. Ohnehin sieht er sich als Opfer der Medien. Diese hatten in den vergangenen Wochen berichtet, dass Porsch nach Angaben der Birthler-Behörde als IM „Christoph“ geführt worden sei. Porsch selbst bestreitet jede wissentliche Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst.

Die Dresdner PDS-Politikerin Christine Ostrowski sieht die Wirkung dieser öffentlichen Diskussion kritischer: „Die Stasi-Debatte um Peter Porsch hat uns bestimmt ein bis zwei Prozentpunkte gekostet.“ Einen Rücktritt Porschs wird aber in der Feierlaune des Wahltags gleich gar niemand fordern, obwohl die 24-Prozent-Marke, die von vielen an der Parteispitze als Schicksalsmarke für Porsch gesehen wird, nach Stand der Dinge verfehlt wird.

Während neue und alte Abgeordnete, Mitarbeiter und Gäste Würstchen und Schnittchen mit reichlich Bier herunterspülen, gibt Porsch im Akkord aufgekratzt ein Interview nach dem anderen. Er freut sich über Fragen wie die nach einer möglichen Regierungsbeteiligung seiner Partei. „Darüber werden wir morgen reden müssen“, sagt Porsch über einen Strauß roter Nelken hinweg, den er sich selig an die Brust drückt. Später wird er in einem Fernseh-Wahlstudio sagen, die Oppositionsarbeit der PDS-Fraktion im Landtag habe sich bewährt: „Damit werden wir weitermachen.“

SPD: Enttäuschung und Schadenfreude halten sich die Waage

„Ich bin ein Stück traurig“, sagt SPD-Spitzenkandidat Thomas Jurk in seiner sehr kurzen Ansprache vor den Genossen im Landtag. Immerhin, einen leichten Zuwachs für seine Partei hätte er schon erwartet, gibt er sichtlich enttäuscht zu. „Unter diesen Bedingungen haben wir ein achtbares Ergebnis erzielt.“ Trotzdem bleibt selbst der gebeutelten SPD an diesem Abend wenigstens ein Grund zum Jubeln. „Ich stelle fest, die Alleinregierung der CDU ist beendet“, erklärt Jurk und alle klatschen erleichtert Beifall.

Endlich hat der Wähler die bis dato übermächtige CDU in die Schranken verwiesen, so oder ähnlich denken die Sozialdemokraten. Der Verlust der absoluten Mehrheit sei für die Demokratie in Sachsen unheimlich viel wert, drückt der SPD-Landtagsabgeordnete Karl Nolle seine Schadenfreude aus. Und Rolf Schwanitz, stellvertretender SPD-Landesvorsitzender, freut sich, dass der Union jetzt mit den anstehenden Koalitionsverhandlungen „eine Art Kulturschock“ bevorstehen werde. Kompromisse mit einem Regierungspartner zu schmieden anstatt einsame Entscheidungen im Hinterzimmer zu treffen, das habe die CDU doch nie gelernt. „Die Ära Biedenkopf ist jetzt auch an der Wahlurne vorbei.“ Karl-Heinz Kunckel, der bei zwei Landtagswahlen vergeblich versucht hatte, die CDU abzulösen, formuliert es höflich: Die Vokabel „Erdrutsch“ sei bei diesem CDU-Ergebnis wohl angebracht.

Wenn sie auf das eigene katastrophale Abschneiden angesprochen werden, verwenden SPD-Leute Worte wie „respektabel“ oder „achtbar“. Angesichts der Protestwelle gegen die Arbeitsmarktreformen, die alle anderen Parteien kräftig geschürt hätten, sei das Ergebnis nicht verwunderlich, heißt es. „Alle haben gewusst, in welch schwieriger Situation wir Wahlkampf gemacht haben“, sagt Nolle. Und die SPD-Bundestagsabgeordnete Marlies Volkmer tröstet sich mit der Erkenntnis, dass ihre Partei sich „auf ihrem Niveau wenigstens stabilisiert“ hat.

Richtig sauer sind viele Genossen über den Wahlerfolg der FDP. Auf Bundesebene fordern die Liberalen die Abschaffung der Sozialversicherungssysteme und hier plakatieren sie „Herz statt Hartz“, schimpft Sozialpolitikerin Volkmer. Und Rolf Schwanitz stichelt: Die FDP sei sicher ein „williger Koalitionspartner“ für die CDU.

FDP: Wir wollen nicht nur der Hilfsmotor sein

Die Partei, die bei der vorigen Landtagswahl 1,1 Prozent der Stimmen hatte, feiert im neuen Dresdner Kongresszentrum, 5 000 Quadratmeter Foyerfläche, moderne Architektur aus Beton, Stahl und Glas. So will sie sein, die FDP: jung, dynamisch, aufstrebend. Man muss eine steile Treppe hinaufsteigen, dann geht es weiter über eine sanft ansteigende, weite Ebene, hin zur nächsten Treppe, immer weiter nach oben, bis zum Konferenzraum, in welchem die Wahlparty gefeiert wird. Ja, es geht aufwärts mit der FDP: Mehr als fünf Prozent der Stimmen sagen die ersten Hochrechnungen voraus. Schon bei der Prognose um 18 Uhr bricht Jubel aus, Applaus, dann ein ohrenbetäubender Rückkopplungston aus der Lautsprecheranlage. Von nun an sieht man nur noch strahlende Gesichter. Herren im Anzug und Damen im Kostüm prosten sich an den Stehtischen zu, Männer umarmen sich und klopfen einander auf die Schultern, ein junges Pärchen küsst sich sekundenlang auf die Lippen, wie nach dem Ja-Wort am Traualtar.

Auch als auf der Leinwand der Stimmenanteil der Sozialdemokraten eingeblendet wird, klatschen einige. „Über das schlechte Ergebnis der SPD freue ich mich besonders“, sagt Ursula Krüger, eine Lehrerin im Ruhestand. Die FDP sei im Wahlkampf vom politischen Gegner angefeindet worden. „Das habe ich selbst erlebt am Wahlstand, dass da welche von der SPD kamen und sagten: ‚Ihr kommt ja sowieso nicht rein‘.“

Viele hoffen auf eine Koalition mit der CDU. „Aber wir wollen nicht nur der zugeschaltete Hilfsmotor sein“, sagt der Listen-Kandidat Jürgen Martens. Auf der Leinwand erscheint der FDP-Spitzenkandidat Holger Zastrow, der von Fernsehjournalisten interviewt wird. Er wolle keine Regierungsbeteiligung um jeden Preis, sagt er. Mit guter Oppositionsarbeit könne man bei der nächsten Wahl sogar ein zweistelliges Ergebnis bekommen. Da bricht Gelächter aus – jubelndes, zustimmendes Gelächter.

Bündnis 90/Grüne:
Wunderkerzen nach langem Warten

Auf den Partytischen liegen Bierdeckel mit einer kühnen Prognose: „Nach zehn Jahren werden Bündnis 90/Die Grünen wieder in den sächsischen Landtag einziehen.“ Im Dresdner Café Maximus schweben Luftballons, heute sollen sich alle bunten Hoffnungen erfüllen. Umfragen hatten der Partei sieben Prozent prophezeit. Doch die 18-Uhr-Prognose dämpft ihren Frohsinn: Als eine 5,0 für sie aufflackert, geht nur ein sachtes „Ja!“ durch die etwa 150 Fans der Grünen, alle wissen: Das knappe „Ja“ zum Parlamentseinzug kann sofort wieder kippen. „Das wird ein langer Abend“, sagt denn auch Johannes Lichdi, der Innenpolitiker der Partei.

Als die Hochrechnungen später dasselbe Resultat zeigen, steigt Lichdi wieder aufs Podium: „Die Fünf stabilisiert sich. Entspannt ein bisschen, trinkt ein Bier! Alles wird gut!“ Aber bald wird alles schlechter. 18.48 Uhr rutschen die Grünen auf 4,9 Prozent, unter die Landtagsbarriere. „Oh, sch...“ stöhnt ein Student und sagt: „Jetzt wurde die Sächsische Schweiz ausgezählt.“ Der Kreis, das wissen alle hier, ist keine Hochburg für sie.

Astrid Schmidt-Günther, die Listendritte, klammert sich an eine vage Aussicht: „Die großen Städte, unsere besten Gebiete, werden erst am Ende ausgezählt“. Spitzenkandidatin Antje Hermenau erzählt, sie sei stets nur knapp in Parlamente gekommen, auch 1990 war das in Sachsen so. Doch die Gäste bleiben abwartend. Ist es ein Erfolg, wenn die Partei fast doppelt so viele Stimmen hat wie 1999, aber den Landtag wieder verpassen könnte? Kaum einen interessieren noch die vielen Diskussionen im Fernsehen, alle stauen sich vor der Leinwand mit den Webseiten des Statistischen Landesamts. Nur was dort steht, zählt noch. Zwischendurch wird das Buffet leer geräumt. Die Grünen, so spürt man, werden auf jeden Fall feiern.

Am Ende fehlen nur noch wenige Wahlkreise in Dresden. Die Grünen packen nun selbst die Stimmen zusammen, von denen sie erfahren haben: „Es müsste reichen“, finden sie bis halb elf heraus. Alle wollen es glauben, aber noch wagt das keiner. 23.36 Uhr springt die offizielle Zahl plötzlich nach oben: Die endgültige 5,1 hebt die Grünen in den Himmel. Konfetti, Luftschlangen, Wunderkerzen. Eine neue Zeit.
(Von G.Saft, A. Novak, K. Schlottmann, S. Melle und M. Krämer)