Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 13.08.2004

Ein Gesetz in Dichtung und Wahrheit Jeder Job ist zumutbar, allen geht es schlechter, Tausende müssen in Plattenbauten ziehen

Selten wurde über eine Reform so viel Irreführendes verbreitet
 
Selten wurde über eine bedeutsame Reform so viel Halbwahres, Falsches oder Irreführendes behauptet. Gezielt nutzen Interessengruppen, Medien und Politiker das Hartz-IV-Gesetz für ihre Kampagnen. Doch was kommt auf Millionen Langzeitarbeitslose und jene, die um ihren Job bangen, tatsächlich zu?

"Jeder Job ist zumutbar", droht Wirtschaftsminister Wolfgang Clement.

So hat es die Regierung sinngemäß auch ins Gesetz geschrieben. Notfalls müsse man einen Mini-Job oder eine Stelle unter Tariflohn annehmen. Doch dann folgen eine Reihe von Ausnahmen: Wer Kleinkinder bis drei Jahre betreut oder pflegebedürftige Verwandte hat, darf ablehnen. Wer fürchten muss, dass der Job die Ausübung seines bisherigen Berufs später erschweren könnte, darf sich ebenfalls verweigern; ein Musiker könnte sich zum Beispiel auf dem Bau die Finger brechen. "Sonstige wichtige Gründe" können ebenfalls gegen eine Stelle sprechen. Michael Stremlau vom Kieler Arbeitsamt klagt in der Zeit, mit der Zumutbarkeitsregel werde viel Stimmung gegen Hartz IV gemacht: "Wenn ich heute eine einfache Stelle angeboten bekomme - Küchen-, Bau- oder Gartenhilfe -, dann habe ich 80 freiwillige Bewerbungen. Da schicke ich doch nicht einen Lehrer hin, der das gar nicht machen will".

"Die Menschen werden weniger Geld in der Tasche haben und sich weniger kaufen können", behauptet Udo Gebhard, DGB-Chef von Sachsen-Anhalt.

Das stimmt - und stimmt nicht. Wer gut verdient hat, muss in der Tat befürchten, dass er ab 2005 weniger Geld bekommt. Die bisherige Arbeitslosenhilfe orientierte sich am Nettogehalt. Beim Arbeitslosengeld II gibt es dagegen einheitliche Regelsätze. Für Singles oder kinderlose Paare können die Einbußen empfindlich sein: Sie bekommen nur noch 345 Euro plus der Mietkosten (und 311 Euro für den Partner). Familien mit zwei oder mehr Kindern stehen dagegen künftig oft besser da: Sie bekommen den Regelsatz für Vater und Mutter, Wohngeld, das Sozialgeld für die Kinder plus anfänglicher Zuschläge. Eine vierköpfige Familie mit früherem Bruttoeinkommen von 3000 Euro bekommt anfangs rund 1660 Euro - mehr als in der Arbeitslosenhilfe. Nach zwei Jahren, wenn die Zuschläge auslaufen, gibt es noch rund 1450 Euro - weniger als heute. Ein fünfköpfige Familie kann nach Angaben aus der SPD-Fraktion je nach Miete auf über 2100 Euro kommen. "Wir werden uns", fürchtet man dort, "in den Boulevardmedien noch fragen lassen müssen: Ist das nicht zu viel Geld fürs Nichtstun?"

Nach den Vermögensverhältnissen wird "in einer fast herzlosen bürokratischen Unbarmherzigkeit" gefragt, behauptet Wolfgang Böhmer, CDU, Ministerpräsident von Sachsen Anhalt.

Anders als Böhmer suggeriert, muss bereits heute jeder, der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe beantragt, detailliert über seine Vermögensverhältnisse Auskunft geben. Im Leitfaden 1b der Bundesagentur für Arbeit erfährt man, dass "die Zahlung der Arbeitslosenhilfe von Ihrer Bedürftigkeit abhängig ist"; durch Vermögen könne "die Bedürftigkeit ganz entfallen". Entscheidend sind dabei nicht nur die eigenen Finanzen, sondern auch das Vermögen und Einkommen des Partners - wie auch künftig beim Arbeitslosengeld II. Allein in den ersten sechs Monaten diesen Jahres wurden 37 500 Anträge auf Arbeitslosenhilfe abgelehnt; einige davon könnten künftig hingegen genehmigt werden. Denn im Zuge der Hartz-Reform werden die Vermögensfreigrenzen deutlich erhöht: Der Antragsteller und sein Partner dürfen je bis zu 26 000 Euro oder maximal 400 Euro pro Lebensjahr behalten, die Hälfte davon für die Altersvorsorge. Wer heute Arbeitlosenhilfe bezieht, darf höchstens 13 000 Euro besitzen; Sozialhilfeempfänger dürfen sogar nur über 1279 Euro (plus 614 Euro für den Partner) verfügen.

"Eine Rückforderung des im Monat der Arbeitsaufnahme gezahlten Arbeitslosengeld II erfolgt nicht", versicherte Wirtschaftsminister Wolfgang Clement noch Ende Juli in einem Brief an den Kanzler und führende SPD-Politiker.

Anders als Clement behauptet, kann die Arbeitsagentur die Hilfszahlung als Darlehen gewähren und zurück fordern, "soweit in dem Monat, für den die Leistungen erbracht werden, voraussichtlich Einnahmen anfallen". So steht es im Gesetz. Der Minister hat dies nach dem Treffen im Kanzleramt eingeräumt: Behalten dürfe man das Arbeitslosengeld II nur, wenn das erste Gehalt erst in den letzten fünf Tagen des Monats überwiesen wird. Gerade bei Angestellten wird aber oft schon zur Monatsmitte ausgezahlt.

"Es wird zur Massenumsiedlung in leer stehende, unsanierte Plattenbauten kommen. Armen-Ghettos entstehen", prophezeit Karl Nolle, SPD-Landtagsabgeordneter in Sachsen.

Das ist falsch. Künftig gelten die selben Wohnungsgrößen als "angemessen" wie heute bei der Sozialhilfe: 45 bis 50 Quadratmeter für einen Single, 85 bis 90 Quadratmeter für eine vierköpfige Familie. Die Berliner Sozialbehörde versichert ebenso wie der Paritätische Wohlfahrtsverband, dass es nicht zu erzwungenen Massenumzügen kommen werde - selbst wenn etliche klamme Wohnungsbaugesellschaften darauf spekulieren.
(von Ulrich Schäfer)