Karl Nolle, MdL

ND - Neues Deutschland, 29.09.2004

Eine kleine Koalition der großen Verlierer

In Sachsen wird die CDU mit der SPD regieren – sie hat keine andere Wahl
 
Sächsisches Neuland: Zum ersten Mal wird im Freistaat über eine Koalition verhandelt. Eine Ehe aus Liebe gehen CDU und SPD aber nicht ein, und ihre jüngsten Enttäuschungen haben beide noch nicht verarbeitet.

Der Showdown fand am 25.August statt. Im Raum A600 des sächsischen Landtags, dessen Fenster einen schönen Panoramablick nicht nur auf über die Weinberge von Radebeul und das Dresdner Schloss bieten, sondern auch auf die sächsische Staatskanzlei, saß deren Hausherr, Ministerpräsident Georg Milbradt, an einem kleinen Tisch. Allerdings wurde dem Regierungschef an jenem Tag nicht die huldvolle Aufmerksamkeit seiner Parteifreunde von der CDU zuteil, deren damals noch 76 Mitglieder zählende Fraktion üblicherweise im Raum A600 tagt. Stattdessen musste Milbradt die unliebsamen Fragen eines Untersuchungsausschusses beantworten.

Ein Mitglied, der SPD-Abgeordnete Karl Nolle, der sich in Sachsen nicht zuletzt durch seine bissigen Attacken auf den Milbradt-Vorgänger und »kleinen König« Kurt Biedenkopf den Ruf eines »Chefaufklärers« erarbeitet hat, stichelte besonders hartnäckig und beließ es auch nicht bei dem in Fragen verpackten Vorwurf, die CDU-Regierung habe bei der Förderung einer Dresdner Chipfabrik die EU belogen. Er stellte zudem Anzeigen wegen des Verdachts der Untreue und des Subventionsbetrugs – unter anderem gegen Milbradt, den Regierungschef.

Wird der »Milbradt-Jäger« Nolle Wirtschaftsminister?

Vier Wochen später hat sich die Szenerie in der Landeshauptstadt in reizvoller Weise verändert. Der Raum A600 ist noch immer für schöne Aussichten gut, aber er ist nicht mehr Nabel der politischen Welt im Freistaat. Die CDU, die seit der Neugründung des Freistaats im Jahr 1990 nach Gusto schalten und walten konnte, hat bei der Landtagswahl am 19.September eine sensationelle Niederlage erlitten: 15,8Prozentpunkte verloren, zum ersten Mal überhaupt fünf Direktmandate eingebüßt, im Landtag mit nur noch 55Abgeordneten vertreten.
Seit gestern muss die sächsische Union daher erstmals über eine Koalition verhandeln – und zwar mit der SPD, die es in ihrem Mutterland seit 1990 schaffte, bei jeder Landtagswahl tiefer in den Keller zu sacken, und nun mit 9,8 Prozent sogar das erste einstellige Landtagswahlergebnis für die deutsche Sozialdemokratie einfuhr. Plötzlich sitzen der angebliche Fördergeld-Schummler Milbradt und sein vermeintlicher Jäger Nolle in einem Boot – und vielleicht nicht nur das: Eine ihm wohlgesonnene Internet-Zeitung aus der Lausitz sieht das SPD-Schwergewicht schon als Wirtschaftsminister und damit als Kabinettstisch-Nachbarn von Milbradt.

Die Wahl, mit der 14Jahre unangefochtener CDU-Alleinherrschaft zu Ende gehen, hat nicht nur Nolle in eine kuriose Lage gebracht. Amüsiert registrieren manche SPD-Genossen, dass ihre Teilhabe an der Macht der letzte Rettungsanker für einen Apparat ist, der ihnen bisher alles andere als wohlgesonnen war. Sie erinnern sich und andere daran, dass Mitarbeiter der Landesverwaltung in Sachsen bisher gelegentlich sogar aus ihrer Position gedrängt werden konnten, wenn sie sich auf eine nicht opportune Weise gesellschaftliche engagiert, sprich: bei Wahlen für die falsche Partei kandidiert hatten. »Zum Glück«, sagt ein Betroffener nun, »trifft man sich im Leben immer zwei mal.«

Derzeit treffen sich Sachsens Christ- und Sozialdemokraten am Verhandlungstisch. Im Ständehaus, von 1907 bis 1945 schon einmal Sitz des Landtags von Sachsen, saßen am gestrigen Nachmittag in Dresden jeweils fünf Unterhändler beider Seiten beisammen, um das auszuhandeln, was Kritiker eine »Koalition der Verlierer« nennen: ein Zweckbündnis ausgerechnet derjenigen beiden Landtagsparteien, die bei der Wahl Stimmen und Mandate einbüßten. Zwar verfügen CDU und SPD im neuen Landtag über eine beruhigende Mehrheit von zwölf Stimmen. Angesichts des gemeinsamen Stimmenanteils von gerade einmal 50,8 Prozent sprechen Kommentare aber allenfalls von einer »mittelgroßen Koalition«.

Wie sich die Partner dieser Vernunftehe zusammenraufen werden, wird in Dresden mit Spannung beobachtet. Wegen der völligen Unerfahrenheit beider Seiten mit den praktischen Aspekten von Koalitionsverhandlungen wurden Verträge aus anderen Bundesländern studiert und Berater angeheuert – dem Vernehmen nach aus dem Bundespräsidialamt und benachbarten Ost-Ländern. Ein CDU-Minister räumt ein, die in 14 Jahren kaum zu Zugeständnissen genötigte bisherige Regierungspartei müsse erst einmal »lernen, auf die anderen zuzugehen«. Dabei obwaltet Vorsicht. Spitzenpolitiker beider Seiten geizen auffällig mit öffentlichen Äußerungen, aus denen mögliche Ansprüche an ein künftiges Regierungsprogramm herauszulesen wären. Zeitungen weisen umso ausdauernder auf Knackpunkte hin.

»Makulatur« ist Grundlage für Koalitionsverhandlung

Besonders konträr sind die Ansätze in der Bildungspolitik. Die SPD hat im Wahlkampf für ein Schulsystem geworben, in dem Kinder bis zur 8.Klasse gemeinsam lernen – ein Punkt, in dem Nähe eher zur PDS und den Grünen als zum künftigen Partner besteht. Sie steht zudem der Streichung von Lehrerstellen ablehnend gegenüber. Die CDU sieht das stark gegliederte sächsische Schulsystem durch den dritten Platz im innerdeutschen PISA-Ländervergleich geadelt und verweist im Übrigen auf finanzielle Zwänge.

Geld ist für die CDU, die vom einstigen Sparkommissar Milbradt geführt wird, ohnehin das Allerheiligste. Das scheint die SPD bereits zu spüren. Waren Parteivertreter zunächst mit der Bemerkung zitiert worden, der 3000 Seiten dicke Haushaltsentwurf der CDU für 2005/2006 sei nur noch »Makulatur«, so gilt eben dieses Zahlenwerk nunmehr als Grundlage für die Koalitionsgespräche.
Solcher Stolpereinlagen ungeachtet, hat man sich in der SPD dazu durchgerungen, die Regierungsbeteiligung als »historische Chance zur Profilierung« anzusehen. Zwar stöhnten Genossen noch kurz vor der Wahl vielsagend auf, wenn das jetzt Realität gewordene Koalitionsszenario angesprochen wurde. Doch die Skepsis scheint binnen weniger Tage verflogen. An der Basis herrsche Neugier, und dass die CDU keine andere Wahl für einen Partner habe, sei »ein Pfand dafür, dass wir uns nicht unter Wert verkaufen müssen«, sagt Ivo Teichmann, Wahlkreiskandidat der SPD in der Sächsischen Schweiz.

Teichmann hofft, die »Mitverantwortung« werde der Partei Zulauf verschaffen. Das hat sie bitter nötig. In der Sächsischen Schweiz zählt sie gerade einmal 30Mitglieder. Die dünne Basis schlug sich im Stimmergebnis nieder: Teichmann erhielt 6,3Prozent; die NPD kam in der Region auf 16,2Prozent.

Dabei ist der SPD-Mann vergleichsweise bekannt: Er steht dem Tourismusverein Elbsandsteingebirge vor. Der 190Mitglieder zählende Verein ist eine Konkurrenzveranstaltung zum finanziell unvergleichlich besser ausgestatteten Tourismusverband Sächsische Schweiz. Dieser befindet sich fest in CDU-Hand – und gilt als eines von vielen Beispielen dafür, wie das CDU-Beziehungsgeflecht den Freistaat überzieht. Wer nicht mit der Union verbandelt sei, bekomme »Steine in den Weg gelegt«, sagt Teichmann; der CDU-Apparat dagegen »verharrt in Selbstherrlichkeit«.

Starrkrampf bei der CDU, Grabenkämpfe in der SPD

Damit könnte es fürs erste vorbei sein. Der Applaus, den Milbradt am Wahlabend im Raum A600 erhielt, wirkte bereits mechanisch und kalt. Das Wahlergebnis dürfte für die Union weit gravierendere Folgen haben als den Verlust einiger Ministerien. Die Partei werde sich von der Schlappe »lange nicht erholen«, orakelt eine sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete. Derzeit scheint sie in eine Art Starrkrampf verfallen zu sein. Trotz der historischen Niederlage melden sich nur wenige Kritiker zu Wort. Über personelle Konsequenzen wird nicht einmal nachgedacht.

Wer indes doch den Mund auftut, streut Salz in alte Wunden. Der Ex-Minister und Bundestagsabgeordnete Manfred Kolbe urteilt, die 41-Prozent-Schlappe nach einem ganz auf Milbradt zugeschnittenen Wahlkampf sei »auch ein Milbradt-Ergebnis«. Und Klaus Leroff, lange Jahre »Einpeitscher« der Fraktion und jetzt nach innerparteilichem Zwist aus dem Landtag geflogen, erklärt dem Regierungschef, man könne »auf Dauer nicht regieren, wenn man nur Misstrauen schafft«.
Die Sticheleien sind erste Anzeichen dafür, dass die tiefe Kluft wieder aufbrechen könnte, die Sachsens CDU von Januar 2001 bis April 2002 lähmte – in der Zeit zwischen der Entlassung Milbradts als Finanzminister und seinem bemerkenswerten Comeback, das in der Ablösung von Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident gipfelte. Äußerlich schienen die Wunden seitdem verheilt. Allerdings galt die Landtagswahl stets auch als »Reifeprüfung« dafür, ob Milbradt tatsächlich ein würdiger Nachfolger ist. Nachdem er diese offenkundig nicht bestanden hat, warnen Granden der Partei auffällig häufig vor neuen Personalquerelen – was Beobachter anmerken lässt: »So beginnen in der CDU die meisten Duelle.«

Derlei interne Zerwürfnisse, die nach einem unbefriedigenden Ausgang der Koalitionsverhandlungen aufbrechen und die Regierungsarbeit hemmen könnten, sind dem kleineren Partner in der kleinen Koalition indes nicht fremd. Auch in der SPD tobten zuletzt monatelang Grabenkämpfe. Sie drehten sich maßgeblich um die Haltung zur politischen Konkurrenz. Landesvorsitzende Constanze Krehl und »graue Eminenzen« wie Rolf Schwanitz, Landesvize und Staatsminister im Kanzleramt, setzten auf Nähe zur CDU; Fraktionschef Thomas Jurk schloss wie viele Parteilinke auch ein Bündnis mit der PDS nicht aus. Der Zwist fand seine Verkörperung in der Person von »Chefaufklärer« Karl Nolle, des Wadenbeißers wider die CDU-Filzherrschaft.

Es darf sicherlich als besonders feine Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass es nun ausgerechnet Jurk vorbehalten ist, mit der CDU über eine Koalition zu verhandeln. Er war zum alleinigen Spitzenmann avanciert, nachdem seine Anhänger im Juni bei einem Parteitag in Döbeln in einer Art Saalschlacht gegen Krehl&Co. triumphiert hatten. Krehl hatte danach abgedankt. Andere Protagonisten der Fehde indes haben weiter Macht und Einfluss – etwa Schwanitz oder Gerald Thalheim. Der aus Mittweida stammende Staatssekretär im Berliner Ministerium für Verbraucherschutz erklärte damals naserümpfend, Nolles »Aufklärungsarbeit« habe der SPD in Sachsen »eindeutig geschadet«. Jetzt ist Thalheim als Minister im Gespräch. Auch mit ihm sitzt Nolle nach dieser verrückten sächsischen Wahl nun wieder in einem Boot – und demnächst vielleicht sogar am Kabinettstisch.
(Von Hendrik Lasch, Dresden)