Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 20.10.2004

Der Sündenfall

Der Einzug der NPD in Sachsens Parlament zwingt die Abgeordneten zum Selbsttest: Wie viel Parteienstreit dient der Demokratie?
 
Über Nacht – und somit ein paar Stunden früher als Sachsens 124 neue Landtagsabgeordnete – hat der Verfassungsschutz das Dresdner Parlamentsgebäude erobert. Die großen Schautafeln einer Ausstellung, mit der die Behörde ansonsten in Schulen für „Demokratie gegen Extremismus“ wirbt, säumen plötzlich den Eingang zum Plenarsaal. Und dort sind sie so eng platziert, als könnte damit das Unvermeidliche in letzter Sekunde doch noch außen vor gehalten werden.

Der Versuch scheitert vier Minuten vor zehn Uhr. Ein Blitzlichtgewitter kündet davon, dass in Sachsen der parlamentarische Sündenfall eingetreten ist. NPD-Fraktionschef Holger Apfel zieht an der Spitze seiner elf Abgeordnetenkollegen in das weite Rund des Sitzungssaals ein. Als einziger im hellen Anzug, der Rest der Truppe bevorzugt ausnahmslos schwarz, grau und braun.

Ein Moment, welcher der Nachwelt in vielfältiger Form erhalten bleibt. Die Konstituierung des Regionalparlaments, das in den kommenden fünf Jahren über Wohl und Wehe von gut vier Millionen Sachsen entscheidet, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Vor dem Landtag stehen die Übertragungswagen der internationalen Sender in langer Reihe, auf der Besuchertribüne im Gebäude saugen dutzende Fernsehkameras stumm jedes Detail sorgsam ein.

Er will doch die Demokratie abschaffen, warum sitzt er jetzt mittendrin, wird Apfel aus der Reporterschar heraus gefragt. Der frisch gebackene Volksvertreter verweist kurzangebunden auf seine Pressestelle. Andere NPD-Abgeordnete haben ebenfalls nichts zu sagen. Persönliche Meinungen gibt es auch hier nur via Pressebüro.

Dem Protest auf der Brust folgt kluge Schelte

Anders draußen vor der Tür. Dort ist der Protest einiger Hundert bereits seit dem frühen Morgen laut und klar. Von Schande ist auf Plakaten zu lesen und davon, dass die Demokratie wehrhaft sein soll. Trotzig klingt auch die Musik aus den Lautsprechern. Dieses bunte Treiben fangen allerdings deutlich weniger Kameras ein. Die halten lieber auf das enge T-Shirt der PDS-Abgeordneten Julia Bonk: „Schöner leben ohne Nazis“ hat sich die 18-Jährige stolz auf die Brust geschrieben. Ein schönes und kämpferisches Motiv, versichert sie eifrig allen Interessierten. Ja, ja sagen die meisten, ohne ihr dabei aufs Gesicht zu schauen.

Dass Apfel und Co. zwei Minuten nach zehn im Gewühl untergehen, hat dann auch andere Gründe. Der Saal füllt sich, und der dominierende Wählerwille in Form der 112 Abgeordneten von CDU, PDS, SPD, FDP und Grünen zieht ein. Der Alterspräsident beginnt eine beeindruckende Rede, die jedes sächsische Schulbuch zieren würde. Der 71-jährige Cornelius Weiss, langjähriger Rektor der Leipziger Universität, schöpft am Rednerpult aus seiner Lebenserfahrung. Die Landtagswahl habe die bisher statische politische Landschaft gründlich verändert – „leider nicht zum Guten“. Weiss zieht einen weiten Bogen, von Weimar bis zum Berliner Mauerfall. Seine Mahnungen gehen dabei aber zunächst in eine unerwartete Richtung. In parteitaktischen Spielchen, wie sie Politiker oft genug am Gängelband von Medienberatern und Marketingstrategen vollziehen, sieht Weiss den Hauptgrund für die grassierende Politikverdrossenheit. Und dann wendet er den Kopf nach rechts außen. „Es gibt immer welche, die darauf ihr demokratiefeindliches Süppchen kochen.“ Vielen Zuhörern schnürt es die Kehle zu, als er Namen vorliest: von Linken und Bürgerlichen, Soldaten und Studenten –alle ermordet wegen ihres Kampfes gegen totalitäre Systeme. Den Blick immer noch rechts, sagt der Wissenschaftler „allen Feinden der Demokratie“ einen Merksatz: „Täuschen Sie sich nicht! Freiheit der Gedanken ist kein Zeichen von Schwäche.“ Nur auf den NPD-Bänken beteiligt sich jetzt niemand am einsetzendem Beifall.

Kader-Lyrik und eherne Selbstbeherrschung

Dann lauern wieder die Kameras. Sie müssen aber warten. Sachsens Landtag wählt erst seinen neuen Präsidenten. Der bisherige Amtsinhaber Erich Iltgen (CDU) erhält 91 Stimmen. Wesentlich mehr als die künftige Regierungskoalition von CDU und SPD Abgeordnete hat. Es könnte ein wichtiges Zeichen werden, doch der Alltag holt die Berufspolitiker schnell ein. Die Verpflichtung der Abgeordneten auf Deutsch, Sorbisch und Sächsisch sorgt noch kurz für Heiterkeit. Mit der folgenden Debatte um die neue Geschäftsordnung des Parlaments rückt die Weiss-Rede aber mit jedem Wort weiter in die Ferne. Die Besetzung von Ausschussposten, günstigeren und noch günstigeren Auszählverfahren, Redezeiten für diesen und Redezeiten für jenen – derlei wird von Sprechern aller Fraktionen heftig verteidigt, sobald das rote Lämpchen die Saalmikrofone freigibt. Grienende Mienen. Zuerst bei Apfel, dann auf den Stühlen hinter ihm. Am Pult streitet gerade die grün-links-liberale Opposition mit dem links-konservativen Regierungslager, ob das neue Amt eines mittlerweile dritten Landtagsvizepräsidenten Postenschacher oder ein kluger Schachzug sei. Dem Grienen folgt prompt ungeduldiges Füßescharren.

Mit sicherer Stimme, nur etwas zu schnell, beginnt kurz nach zwölf erstmals ein NPD-Abgeordneter im sächsischen Parlament zu sprechen. Holger Apfel kennt seinen Text, und er weiß, was er will: Auf keinen Fall über jene Linie treten, die seiner Partei den Ruf beschert, politische Ziele außerhalb des deutschen Grundgesetzes zu verfolgen. Ein paar markige Parolen aus der Kader-Lyrik der Partei müssen reichen. Und so wettert Apfel, während ihn bundesweit bekannte NPD-Größen aufmerksam von der Besuchertribüne beobachten, über die „faule Eintracht der Systemparteien“. Deren Streit vor wenigen Minuten passt gut ins Redekonzept. Nun spricht auch Apfel über das dritte Vize amt. Natürlich herrsche in diesem Landtag „Postengeschacher“, triumphiert er lautstark und redet von Haushaltsdisziplin in schlechten Wirtschaftszeiten und unnötigen Belastungen des Steuerzahlers, auf dessen Rücken sich einzig und allein seine Fraktion nicht ausruhe. „Wir sind die letzte moralische Instanz in diesem Haus“, behauptet Herr Apfel vollmundig an seinem ersten parlamentarischen Arbeitstag.

Die Kameras filmen unentwegt. Auch in dem Moment, als der Neu-Parlamentarier streng erklärt, die NPD lasse sich von den „Phrasen einer wehrhaften Demokratie nicht abschrecken“. Dann ist auch seine Redezeit zu Ende.

Ein Abstimmungserfolg, der vielleicht keiner ist

Fast zeigt sich bei einigen Reportern so etwas wie Enttäuschung. Auch Julia Bonk sitzt nun entspannter da, so dass der Schriftzug vorn auf ihrem T-Shirt nicht mehr ganz zu lesen ist. Selbst jene Abgeordnete anderer Fraktionen, die sich besonderer Tapferkeit wähnten und dem Redner kurzerhand den Rücken zugedreht hatten, schauen wieder nach vorn.

Es beginnt eine endlose Abstimmung über Details der neuen Geschäftsordnung. Kreuz und quer verstrickt sich das Parlament in Verfahrensfragen. Dann wird erneut gewählt. Der erste Vizepräsident, der zweite und schließlich der dritte. In diesem Fall schafft der SPD-Abgeordnete Gunther Hatzsch mit 63 Stimmen nur knapp den Sprung ins Amt. Für die einen ein Fingerzeig für die Wirkung des Postenschacher Vorwurfs. Andere bleiben kritischer: Eine Nichtwahl wäre gerade heute der größere Erfolg gewesen.
Von Gunnar Saft