Karl Nolle, MdL
Plenum SLT, Aktuelle Debatte, 10:00 Uhr, 10.12.2004
Thema: Sachsens Industrie auf Wachstumskurs
Nolle: "Ich habe einige Fragen zum Begriff des Wachstums"
Herr Präsident! Meine Damen und Herren der demokratischen Parteien!
Vielleicht erstaunt es Sie: Als mittelständischer Unternehmer, habe ich einige Fragen zum Begriff des Wachstums.
Wir alle starren auf das Wachstum wie das Kaninchen auf die Schlange. Wirtschaftswachstum wird landläufig als der entscheidene Maßstab für den Erfolg von Politik angesehen.
Steigt das BIP bedeute das "Fortschritt und Wohlstand". Fehlt Wachstum, oder ist es nur gering heißt das Rückschritt und Niedergang.
In den westlichen Staaten ist man seit Ende der 60er Jahre der Überzeugung, daß Wirtschaftswachstum eine unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit demokratisch verfasster Industrienationen sei und diese Auffassung wird bis heute bei allen Kongressen und Wirtschaftsgipfeln immer wiederholt.
Seit den Siebzigern gilt diese These von der Unverzichtbarkeit eines dauerhaften angemessenen Wachstums. Es bedeute Voraussetzung für höhere Beschäftigung, für Wohlstand und sozialen Frieden, heißt es.
Ist es aber wirklich so?
Gibt es im Prozess der zunehmenden Globalisierung, die ja nicht plötzlich stattfindet, einen verläßlichen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, der eine Politik der Wachstumsförderung begründen kann?
Und - wenn es so ist, können wir auf diese Wachstumserwartungen allein die Zukunft unseres Landes gründen?
Meinhard Miegel sagt dazu: »Die Politik hofft, dass hohe Wachstumsraten irgendwann das Beschäftigungsproblem lösen, werden. Diese Hoffnung ist vergeblich. Ihr fehlt jede Grundlage. Sie ist wie das Warten auf Godot - er kommt nie. Schon der gedankliche Ansatz ist falsch. Arbeit entsteht nicht durch Wachstum, sondern Wachstum durch Arbeit.«
Soweit Meinhard Miegel und ich sage, es gibt keinen Automatismus steigender Erwerbstätigkeit bei steigendem Wirtschaftswachstum. Im Gegenteil, während das Prokopf-Inlandsprodukt in den letzten 50 Jahren um ca. 600 % stieg, ist das Prokopf-Arbeitsvolumen sogar noch um ca. 30 % gesunken.
Das war nur möglich durch enormen Einsatz von Wissen und Kapital. Im Vergleich unsere Volkswirtschaft mit anderen großen Industrienationen erwirtschaften wir unsere Ergebnisse mit einer kleineren Arbeitsmenge, aber höherem Kapital- und Wissenseinsatz, während andere bei weniger Einsatz von Kapital und Wissen mehr Arbeit benötigen.
Niemand käme doch im Umkehrschluß bei uns auf die Idee, weniger Wissen und Kapitaleinsatz für mehr Beschäftigung zu fordern. (Im Übrigen, wettbewerbsfähige Mikrochips lassen sich eben nicht durch weniger Kapital und Knowhow stattdessen aber mit mehr Arbeitsvolumen herstellen.)
Mit der einfachen Formel: "Mehr Beschäftigung durch mehr Wachstum" können wir heute keine zufriedenstellende Antworten auf die Frage geben, warum unser hoher Einsatz von Wissen und Kapital, nicht automatisch zu mehr Beschäftigung und nicht zum dramatischen Abbau von Arbeitslosigkeit führt.
"Mehr Beschäftigung durch mehr Wachstum"; diese Formel ist eine Illusion.
Natürlich sind im Aufbau der sächsischen Wirtschaft nach 1990 hunderttausende neue Arbeitsplätze entstanden, Gott sei Dank! Aber gleichzeitig sind auch hunderttausende Industriearbeitsplätze der DDR alternativlos vernichtet worden - und viele nicht aus wirtschaftlichen Gründen und sie werden weiter vernichtet.
Ohne die Resultate der Bevölkerungsentwicklung, von Geburten und Abwanderung, sowie ohne die ca. 130.000 wöchentlichen, sächsischen Pendler hätten wir heute gravierend mehr Arbeitslose in Sachsen als 1991.
Vielleicht können wir noch einige Zeit die Schaffung neuer Arbeitsplätze stimulieren, indem wir Fördergeld in die Hand nehmen und Standortvorteile erklären, vielleicht mehr, als gleichzeitig durch ganz normale Rationalisierungen und weitere Insolvenzen verloren gehen.
Wahrscheinlich werden diese Arbeitsplätze im Sächsischen Mittelstand entstehen, ich hoffe es sehr.
Es ist unwahrscheinlich, daß wir mit weiteren 100 BMW Ansiedlungen nach Sachsen holen können um unsere Probleme der mangelnden Beschäftigung zu lösen, die wären nämlich notwendig, um unsere Beschäftigungs- und Produktionslücke zu schließen. Ja, wo soll denn die Lösung herkommen? Durch Wachstum? Welches Wachstum?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren der demokratischen Parteien!
Ich freue mich natürlich, wie alle über die vielen positiven Zahlen, die wir in Sachsen zu vermelden haben. Das ist Erfolg, ja, das ist richtig. aber ich glaube dass wir trotzdem darauf hinweisen müssen, dass Wachstum allein kein ausreichender Indkator für die Wohlfahrt eines Landes ist. Wenn wir feststellen, dass die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, und wenn wir weiter feststellen, dass die Schere zwischen Arm und Reich gravierend auseinander geht, dann reicht es eben nicht, dass wir uns über Wachstum unterhalten, sondern wir müssen auch schauen, was dahinter liegt.
Im Koalitionsvertrag zwischen Christ- und Sozialdemokraten heißt es auf Seite 3: „Wachstum und Nachhaltigkeit sind keine Gegensätze“.
Wie wir alle wissen, findet die Zeit des Aufbauwachstums in Ostdeutschland, durch den Auslauf des Solidarpaktes II im Jahr 2019, ein definitives Ende.
Dies Wachstum ist zu allererst ein durch Milliardentransfer geliehenes Wachstum. Wie das Flutgeld-Wachstum von 2003 wird und wurde es durch die Solidarität Gesamtdeutschlands finanziert. Das Ende ist also in Sicht. Und dann?
Aufgabe unserer Politik ist es, künftig stärker den Weg zu mehr Nachhaltigkeit der sächsischen Wirtschaft zu gehen, zu einem dynamischen Bestandswachstum, zu einer Wirtschaft, die durch Entwicklung wie Bestandssicherung gekennzeichnet ist, in der der Klassenerhalt auf den vorderen Plätzen ebenso wichtig ist, wie der begehrte Aufstieg. Es muß ein Weg sein zu einer Gesellschaft, in der es einen ständigem Austausch von Alt und Neu gibt, in der die nachhaltige Konsolidierung und Stabilität unserer Unternehmen und damit die Sicherheit der sozialen Lebensgrundlagen unserer Menschen zu einem Wesensmerkmal wird.
Diese Sicherheit ist ein entscheidender Produktivitätsfaktor. Sie ist für die Zukunft nicht gewährleistet. Damit Infrage gestellt ist die wesentliche Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft.
„Das als neoliberale Programm getarnte Trommelfeuer auf den Sozialstaat ist von ergreifender Banalität“, sagt Norbert Blüm und weiter „ dessen Credo läßt sich auf Dogmen reduzieren, die selbst ein Papagei verkünden kann, wenn er zwei Worte auswendig lernte: Kostensenkung und Deregulierung.“
Auch ich halte es für eine eklante Fehldiagnose, der Bierdeckelstrategen, unseren Sozialstaat ausschließlich als Kostenfaktor und Wachstumsbremse und nicht als wichtigen Produktivitätsfaktor zu erkennen.
Nicht die Polizei und nicht die Justiz waren jahrzehntelang Garant des inneren Friedens in diesem Land; nicht Strafrechtsparagrafen und nicht Sicherheitspakete haben für innere Sicherheit gesorgt. Garant für den inneren Frieden in diesem Land war der Sozialstaat. Er war das Fundament der Prosperität, er war die Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte, er verband politische Moral und ökonomischen Erfolg, er hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich, seine Sicherheit für die Menschen war ein zentraler Produktivitätsfaktor.
Der Sozialstaats braucht neue Kraft, er braucht eine Therapie, ja, vielleicht eine Generalüberholung, auf jeden Fall Stärkung, nicht Abwicklung.
Unsere Gesellschaft wird von mehr zusammengehalten als nur von der Summe der Betriebswirtschaften, so wichtig auch Betriebswirtschaften sind. Das fällt mir ein, wenn soviel von Wachstum die Rede ist, was so wenig erklärt.
Vielleicht denke ich an der Stelle auch sehr konservativ, wenn ich mit Kant frage: „Was ist der Mensch?“ und dann seine Antwort zitiere: „Würde hat keinen Preis, alles andere in der Welt hat einen Preis, nur der Mensch hat Würde. Nicht die Vernunft unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen, sondern seine Autonomiefähigkeit, seine Würde."
Ich stimme Friedhelm Hengsbach, dem führenden Vertreter der christlichen Soziallehre und Professor für Wirtschafts- und Gesellschaftsetik aus Frankfurt zu, wenn er in seinem vor wenigen Tagen erschienen Buch „Das Reformspektakel“ sagt:
„Kern jeder Wirtschaft und jeder Gesellschaft bleibt der Mensch. Ökonomie und Wachstum ist nicht alles, Marktregeln sind von Menschen gemacht und nach gesellschaftlichen Maßstäben zu beurteilen.“
Bei allem Lob für die Entwicklung der Sächsischen Wirtschaft: Bloßes Wachstumsdenken, ja Wachstumsfetischismus, meine Damen und Herren, greift zu kurz. Das beschreibt nicht den Weg in eine Gesellschaft in der es einen ständigen Austausch von Alt und Neu gibt, wo es um nachhaltige Konsolidierung und Stabilität unserer Unternehmen geht, um Nachhaltigkeit, die alleine die Sicherheit der sozialen Lebensgrundlagen unserer Menschen begründen kann.
Kurt Biedenkopf forderte dafür (vor einigen Tagen) einen Paradigmenwechsel im Denken. „Wir können uns dabei“, sagt er, „auf die Kräfte stützen, deren Wachstum weder zeitlichen noch räumlichen Grenzen unterliegt - auf die geistigen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und religiösen (und ich füge zu Biedenkopf hinzu: weltanschaulichen) Kräfte der Menschen, kurz: auf ihre Erkenntnisfähigkeit stützen“
Volle Zustimmung, in diesem Sinne, und ich glaube nur in diesem Sinne, ist Wachstum und Entwicklung unbegrenzt.
Alles hat seinen Preis, nur der Mensch hat Würde, das sollte man beim Geschäftemachen nicht vergessen. So denke ich als mittelständischer Unternehmer und als sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.