Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 17.06.2005

„Die Parteien sollen ehrlich sagen, was sie wollen“

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger plädiert für höhere Löhne. Die SZ sprach mit ihm über die Gründe und Hartz IV.
 
Sie fordern drei Prozent Lohnerhöhungen, auch für den Osten?

Zunächst ist das nur eine grobe Richtschnur. Aber grundsätzlich ist die Linie, sich am Produktivitätsfortschritt zu orientieren, insgesamt zweckmäßig, in West wie Ost.

Warum gerade drei Prozent?

Mir ist wichtig, dass wir in der Lohnfindung berücksichtigen, dass wir in der Europäischen Währungsunion sind. Deshalb müsste der Inflationsausgleich ein europäischer sein, nämlich, was die Europäische Zentralbank als Geldwertstabilität ansieht. Das sind zwei Prozent, plus ein Prozent Produktivitätsfortschritt kommt man auf drei Prozent. Der Effekt wäre eine etwas höhere Inflationsrate, damit sinken die Realzinsen, und das ist gut für die Dynamik der Wirtschaft.

Aber kostet eine Lohnerhöhung nicht mehr Jobs, die ins Ausland verlagert werden?

Bei einer am Produktivitätsfortschritt ausgerichteten Lohnentwicklung bleiben die Lohnstückkosten konstant. Das ist für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend. Deutschland ist heute ein sehr wettbewerbsfähiges Land, auch wenn das oft anders dargestellt wird. Die Exportentwicklung ist sehr dynamisch. Die Konzerne haben überwiegend gute Gewinne gemacht. Daher kann man nicht sagen, das Lohnniveau ist im Durchschnitt zu hoch. Natürlich gibt es Bereiche, wo Anpassungen durch Arbeitskräfte aus Osteuropa erfolgen. Deshalb ist es wichtig, mit Hilfe des Entsendegesetzes allgemein verbindliche Lohnuntergrenzen zu setzen. So machen es uns die Tarifvertragsparteien in Österreich vor. Dann findet nicht eine Anpassung unseres Lohnniveaus an das polnische statt, sondern umgekehrt.

Was macht Sie so sicher, dass die Leute das Geld auch ausgeben und nicht sparen?

Die Sparquote ist hoch. Doch aus meiner Sicht ist ihre Entwicklung unabhängig von der Lohnentwicklung. Auch wenn die Sparquote von 10,8 auf elf Prozent steigen sollte, würde das meiste der Lohnerhöhung ausgegeben werden.

Die Leute sparen, weil sie verunsichert sind – wegen der Reformen an sich oder wegen der Art, wie sie umgesetzt werden?

Die Menschen sind pragmatisch. Sie fragen sich, was sich für sie persönlich in den letzten Jahren verändert hat. Da ist die vorherrschende Wahrnehmung: Das Risiko, arbeitslos zu werden, hat zugenommen, und die Absicherung für einen solchen Fall hat sich verringert. Beide Effekte verstärken sich. Hartz IV wäre kaum beachtet worden, wenn man es 1965 bei leer gefegten Arbeitsmärkten eingeführt hätte.

Warum zeigt die Hartz-Reform so wenig Erfolg?

Das logische Problem von Hartz IV liegt darin, dass die Arbeitslosigkeit als Vermittlungs- und Anreizproblem gesehen wird. Beides ist bei dieser hohen Arbeitslosigkeit aber nicht zentral. Die Hartzmaßnahmen wären interessant in einer Situation, wo auf viele offene Stellen viele Arbeitssuchende kommen. Ohne die Ein-Euro-Jobs gerechnet kommen aber in Ostdeutschland 30 Arbeitslose auf eine offene Stelle, und wenn selbst die Hälfte davon keine Lust hat zu arbeiten, kommen immer noch 15 Arbeitslose auf einen freien Arbeitsplatz.

Wie kommt dann der Arbeitsmarkt in Schwung?

Durch Wachstum. Wir haben von 2001 bis 2004 durch die schwache Wirtschaftstätigkeit eineinhalb Millionen Vollzeitjobs verloren. Deshalb muss man versuchen, die Wachstumsraten wieder auf zwei Prozent zu heben. Das ist nicht unrealistisch. Von 1991 bis 2000 hatten wir Wachstumsraten von durchschnittlich 2,1 Prozent. In den Jahren 2001 bis 2005 waren es nur ein halbes Prozent.

Und bei der Arbeitsmarktpolitik sind keine Änderungen nötig?

Wir haben fast acht Millionen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse – das sind fast zwei Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Wenn man davon die Hälfte in reguläre Beschäftigung zurückbekäme, hätte man eine Million Arbeitslose weniger. Wir haben diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vor allem deshalb, weil der Staat durch die 400-Euro-Jobs unsystematisch Arbeitgeber fördert, wenn sie Vollzeittätigkeit in Teilzeittätigkeit umwandeln. Hier wird falsch subventioniert. Statt dessen sollte man lieber im Niedriglohnbereich bis 1000 Euro durchgängig geringere Sozialabgaben fördern.

Was bringt mehr Dynamik, eine Unternehmenssteuerreform?

In den letzten Jahren wurden die Steuern deutlich gesenkt, ohne den geringsten Effekt. Mit 44 Prozent Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer haben wir im „Alten Europa“ eine äußerst günstige Stellung. Ich verstehe gar nicht, dass die Union jetzt Steuersenkungen so zum zentralen Thema macht. Die Erfahrung zeigt, es wird in erster Linie dann investiert, wenn die Auftragsbücher voll sind. Es fehlt also dieser Nachfrageschub, und den bekommt man erst dann, wenn das ganze System auf Touren kommt.

Aber höhere Löhne bedeuten höhere Kosten für die Betriebe. Investieren sie dann?

Die Idee ist ja, die Lohnerhöhung am Produktivitätsfortschritt zu orientieren. Das heißt, es kann mehr verteilt werden, indem der Kuchen insgesamt größer wird. Produktivitätsorientiert heißt also, das Tortenstück des Arbeitnehmers wie auch des Arbeitgebers kann zunehmen. In den vergangenen Jahren ist das Tortenstück des Arbeitnehmers gleichgeblieben und das des Arbeitgebers überproportional gewachsen. Das war nicht gut für die Binnenkaufkraft.

Viele Deutsche meinen, egal, welche Partei sie wählen, ihr Tortenstück wird kleiner. Zwischen was können sie sich bei Neuwahlen entscheiden?

Bisher liegen keine Wahlprogramme auf dem Tisch. Aber was wir bisher nicht richtig diskutiert haben, ist, welches Modell von Staat wir haben wollen. Es gibt das Modell „Magerstaat“, wo die Staatsquote – also die Staatsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt – unter 40 Prozent liegt wie in den USA, Großbritannien, Japan und der Schweiz. Und es gibt den „kräftigen Staat“ mit Staatsquoten über 50 Prozent wie in Schweden, Finnland und Dänemark. Wir liegen mittendrin. Jetzt ist die Frage, wo wollen wir hin: Magerstaat angelsächsischer Prägung oder wäre es auch denkbar, etwas mehr Staat zu haben und das Geld klug zu investieren in Infrastruktur, Bildung und Forschung. Die Parteien sollen ehrlich sagen, was sie wollen. Für mich ist noch nicht ausgemacht, dass die Union wirklich den Magerstaat will.

Besteht die Hoffnung, dass unter einer ostdeutschen Kanzlerin der Aufbau Ost Chefsache wird?

Die finanziellen Spielräume werden über das hinaus, was jetzt im Solidarpakt II vereinbart wurde, für Frau Merkel nicht größer sein als für Herrn Schröder.

Braucht der Osten einen Ost-Beauftragten oder Sonderregeln?

Er braucht das Gleiche wie der Westen – mehr Nachfrage. Unsere Konjunktur ist derzeit vom Export getrieben. Da der Osten wenig Exportindustrie hat, würde er von einer Belebung der Binnennachfrage mehr profitieren als der Westen.

Also keine Sonderregeln?

Die Lohnstückkosten im Osten sind zwei Drittel vom Niveau des Westen. Wir haben hier kaum noch Flächentarifverträge, es gibt kräftige Investitionsförderung. Das sind doch alles schon Sonderregeln.

Was ist die wichtigste Maßnahme, die eine neue Regierung angehen muss, um die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Schwung zu bekommen?

Ich würde die Förderung der Geringqualifizierten in den Vordergrund stellen, weil ihr Anteil an den Arbeitslosen sehr hoch ist. Man sollte nicht versuchen, in der Breite Arbeitslosigkeit abzubauen, sondern gezielt Lösungen dort suchen, wo die Not am größten ist. Da wäre auch eine Mehrwertsteuererhöhung angemessen, um mit dem Geld gezielt Erleichterungen für Geringqualifizierte zu fördern.

Gespräch: Nora Miethke