Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 27.07.2005

„Die SPD hat ihr Kapital verspielt“

Wahlen. Die sächsischen Sozialdemokraten suchen nach einem Weg aus ihrem Umfrage-Tief.
 
Katzenjammer bei der SPD. „Dass die Stimmungslage für die SPD durch ihre Reformpolitik für uns ungünstig ist, war uns klar“, versuchte Sachsens SPD-Spitzenkandidat und Partei-Vize Rolf Schwanitz gestern zu beschwichtigen. „Wir sollten diese Zahlen als Herausforderung begreifen“, fügte der Minister im Bundeskanzleramt in feinst geschliffenem Wahlkämpfer-Deutsch noch hinzu.

Die „Herausforderung“ für die SPD, das Blatt bis zur Bundestagswahl am 18. September auch in Sachsen noch zu wenden, ist in der Tat gewaltig: Magere 19 Prozent hatte einen Tag zuvor eine SZ-Umfrage für die sächsischen Genossen als düstere Prognose ermittelt. Das würde einen Erdrutsch-Verlust der SPD bedeuten. Denn noch vor knapp drei Jahren war sie in Sachsen mit rund 33 Prozent nahezu auf Augenhöhe mit der CDU gekommen.

Schwanitz versucht, den Blick nach vorn zu richten. „Wir sollten jetzt nicht Vergangenheitsbewältigung betreiben“, wehrt er allzu tiefe Ursachsen-Forschung ab. Eine Arbeit, die Karl Nolle, Mitglied des SPD-Landesvorstands und der Landtagsfraktion, ihm gerne abnimmt. „Die heftigen Einschnitte durch Hartz IV und die Agenda 2010 haben weder Arbeitsplätze geschaffen noch irgendwie zum Wirtschaftswachstum beigetragen, gemessen an den eigenen Ansprüchen ist das Konzept im Osten auf der ganzen Linie gescheitert.“ Die SPD habe ihre „Kernkompetenz“, die soziale Gerechtigkeit, verloren.

Kritik an der Koalition

„Die SPD hat im Westen ihr historisches Kapital verspielt. Im Osten hat sie dies noch gar nicht aufbauen können“, rechnet Nolle mit der eigenen Partei ab; auch mit ihrer Arbeit in der Landesregierung. „Die SPD regiert in Sachsen nicht, sondern sie regiert mit“, so Nolle. „Es ist aber ein großer Unterschied bei einem Tandem, ob man mehr lenkt oder mehr klingelt.“

Bildung, Ausbildung, Arbeit – diese Themen müsse die SPD auch in Sachsen jetzt verstärkt besetzen, fordert Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen. „Die schwarz-gelbe Politik beinhaltet eine ganze Palette von klaren Angriffen auf Arbeitnehmerrechte“, sagt auch Schwanitz. „Vor allem würde diese Politik einen Kahlschlag im zweiten Arbeitsmarkt bedeuten und den Osten quasi zur Kündigungsschutz-freien Zone machen.“Doch während Schwanitz einem Bündnis mit der Linkspartei ohne zu zögern eine „klare Absage“ erteilt, scheinen andere Genossen dem Flirt mit Links nicht abgeneigt. Mit der SPD in einer großen Koalition könne er leben, so Lucassen. „Schwerlich“ dagegen mit einem roten Handschlag zwischen SPD und Linkspartei.

Nolle findet wie immer deutlichere Worte. „,Niemand hat die Idee, ein Bündnis einzugehen‘, das erinnert mich an einen Satz von Walter Ulbricht: ,Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.‘, sagt er. „Wer glaubt denn da dran? Das ist lebensfremd. Wenn sich rein machtpolitisch, das heißt rechnerisch, die Möglichkeit ergibt und genügend inhaltliche Schnittmengen vorhanden sind, dann wird es auch eine Koalition oder ein Bündnis geben, davon bin ich überzeugt.“

Nach Ansicht des Parteienforschers Werner Patzelt von der TU Dresden war es ein grundlegender Fehler der SPD, nach der Wende die Reformkräfte aus der PDS nicht aufgenommen zu haben. Jetzt sei eine starke Konkurrenz auf dem linken Flügel entstanden. Ihr fehle eine klassische Stammwählerschaft wie im Westen: Arbeiter und die so genannten kleinen Leute. „Für die Bundestagswahl bleibt für die SPD nur das Prinzip Hoffnung.“
Von Annette Binninger und Karin Schlottmann