Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 29.08.2005
"Ehrlichkeit ist angesagt"
Interview mit Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe
Dresden. "Die Union macht um die Menschen im Osten einen Bogen", sagt Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD). Die Abschaffung der Pendlerpauschale belaste die Menschen im Osten mehr als Westen.
Frage: Der Kanzler hat gesagt, was die Union in ihrem Wahlprogramm fordert, wie etwa die Lockerung des Kündigungsschutzes, gefährdet den inneren Frieden. Ist das übertrieben?
Manfred Stolpe: Der Kanzler hat recht. Im Osten haben mehr als 90 Prozent der Unternehmen weniger als 20 Beschäftigte. Wenn die Pläne der Union Wirklichkeit werden würden, fielen neun von zehn Unternehmen im Osten aus dem Kündigungsschutz heraus. Das wäre de facto die Abschaffung des Kündigungsschutzes in den neuen Ländern.
Welche Auswirkungen hätte die von der Union geforderte Abschaffung der Pendlerpauschale?
Im Osten fahren 330.000 Menschen jeden Tag mehr als 50 Kilometer zur Arbeit. Im Verhältnis sind das deutlich mehr als im Westen. Die Union will diese Pendlerpauschale streichen. Für einen Arbeitnehmer, der 50 Kilometer zur Arbeit fährt, führt dies zu einer Mehrbelastung von rund 800 Euro im Jahr. Jemandem, der 80 Kilometer zurücklegt, fehlen aufs Jahr gerechnet mehr als 1500 Euro. Das zeigt mir, die Union macht um die Menschen im Osten einen großen Bogen.
Mit welchen Versprechungen will denn die SPD vor der Wahl noch punkten?
Die Zeiten sind vorbei, dass mit irgendwelchen Versprechungen noch Wahlen gewonnen werden können. Ehrlichkeit ist angesagt.
Die Wähler sehen das offenbar anders, denn die Linkspartei verspricht unter anderem einen Mindestlohn von 1400 Euro. Nach Meinungsumfragen hat sie immer noch den höchsten Stimmenanteil in den neuen Ländern.
In den aktuellen Umfragen ist die SPD im Osten wieder stärkste Kraft. Stimmen für die Linkspartei sind am Ende verschenkt. Das merken auch die Wähler. Ich glaube, die Menschen sehen sehr wohl, in welchen wirtschaftlich schwierigen Zeiten wir stecken. Die Linkspartei macht unfinanzierbare Versprechungen.
Braucht der Osten mehr Geld?
Nein, wir haben mit dem Solidarpakt 156 Milliarden Euro gesichert bis 2019, die nimmt uns keiner weg. Jetzt geht es darum, sie so einzusetzen, dass die Menschen auch die wirtschaftlichen Effekte sehen. Wir haben die Förderpolitik neu ausgerichtet, dass sie mehr Arbeitsplätze schafft.
Was ist von einer SPD in einer kommenden Regierung für den Aufbau Ost zu erwarten?
Vor allem werden wir die Investi-tionszulage sichern. Denn nur, wenn die Unternehmen weiter Geld in die Hand bekommen, werden sie im Osten investieren. Durch die Investitionszulage werden im Osten Jahr für Jahr drei Milliarden Euro an Investitionen ausgelöst.
Die Union plädiert aber für die Abschaffung, weil das Geld nach dem Gießkannenprinzip ausgegeben wird.
Die Union ist im Moment wie ein Fähnchen im Wind. Thüringens Ministerpräsident Althaus hat seinen Finanzminister vor wenigen Wochen noch beschließen lassen, dass die Investitionszulage verlängert werden muss. Der sächsische Ministerpräsident Milbradt hat kürzlich sogar eine Bundesinitiative dazu gestartet. Jetzt ist er plötzlich gegen die Investitionszulage. Diese Wahlkampfpirouetten sind nur damit zu erklären, dass die Ostministerpräsidenten der Union vom Südwesten der Partei auf Kurs gebracht worden sind. Althaus und Milbradt handeln gegen die Interessen des Ostens.
Rot-Grün will noch ein Gesetz zur Angleichung der Arbeitslosengeld-II-Zahlungen in Ost- und Westdeutschland verabschieden. Ist das nicht purer Wahlkampf?
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Niemandem im Osten ist erklärbar, warum der Grundbedarf hier niedriger sein soll als anderswo.
Wäre denn nicht eine Neuordnung der Beträge nach der jeweiligen Kaufkraft der einzelnen Bundesländer gerechter - selbst Kurt Biedenkopf, der an der Spitze des Ombudsrates der Regierung für die Hartz-IV-Reformen steht, unterstützt die Pläne?
Kurt Biedenkopf sollte den Menschen sagen, welche Auswirkungen die Regionalisierung beim Arbeitslosengeld II hätte. Für viele würde das im Westen wie im Osten eine Kürzung bedeuten. Die Wortmeldung von Biedenkopf ist auch deshalb bemerkenswert, weil der Ombudsrat sich Ende Juni für die Angleichung der Sätze ausgesprochen hat. Biedenkopf hat es nicht nötig, aus Parteiraison seinen eigenen Positionen zu widersprechen.
Im Westen wird immer kritischer auf die gut ausgebauten Straßen im Osten geblickt. Gibt es nach der Wahl ein Umsteuern beim Ausbau?
Wir haben uns mit den Ländern verständigt, dass vor allem die Wachstumskerne gefördert werden, ohne den ländlichen Raum zu vernachlässigen, wo immerhin 80 Prozent der Bevölkerung leben. Leipzig ist so ein Wachstumskern, ferner Halle, Chemnitz und mit Sicherheit Dresden. Bei der Entwicklung dieser Kerne spielt der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur eine große Rolle.
Das heißt?
Wir werden die Autobahnanbindung von Mitteldeutschland nach Berlin komplettieren. Die ist fast fertig. Ferner muss die A 38 bis zur Fußball-WM 2006 stehen. Wir verabschieden uns auch nicht von dem Projekt Autobahn 16 von Leipzig in die Lausitz als wichtige Ost-West-Trasse. Vorerst wird hier die Elbquerung gesichert.
Die Region braucht dringend die A 72 bis Chemnitz.
Sie wird ebenfalls 2006 fertig. Das Geld ist da. Die Zusammenarbeit mit der sächsischen Verwaltung ist gut. Das schaffen wir. Wir brauchen jetzt noch eine schnelle Bahnverbindung nach Berlin. Unter einer Stunde mit dem ICE nach Leipzig, das muss im kommenden Jahr stehen. Der Ausbau der Bahnverbindung von Leipzig nach Dresden ist da schon schwieriger. Bis Riesa läuft es gut, aber dann macht uns die Trasse zu schaffen.
Glauben Sie, dass die Strecke noch in diesem Jahrzehnt fertig wird?
Mit Prognosen halte ich mich hier zurück.
Trifft das auch auf die Weiterführung der ICE-Trasse von Berlin über Leipzig nach Erfurt und Nürnberg zu?
Die Bahn braucht diese Verbindung. Das Teilstück von Leipzig nach Erfurt hat Priorität. DHL legt größten Wert darauf, Güter über diese ICE-Trasse bis Erfurt und dann westwärts zum Flughafen Frankfurt/Main transportieren zu können. Mit unserem Zwei-Milliarden-Programm, das der Bundeskanzler im März für die Verbesserung der Infrastruktur zur Verfügung gestellt hat, können wir dieses Projekt um 220 Millionen Euro verstärken.
Und die Trasse von Erfurt durch den Thüringer Wald nach München ...
... ist ein Knoten, den wir noch nicht entwirrt haben. Die Großprojekte der Deutschen Bahn, da gehört neben der Trasse durch den Thüringer Wald auch die Querverbindung Stuttgart- München dazu, sind Vorhaben, die viel Geld kosten.
Wann rechnen Sie mit dem Börsengang der Bahn? Hartmut Mehdorn will es 2006 schaffen.
Das hängt von den Zahlen ab, die die Bahn regelmäßig vorlegen muss. Der Bahnchef ist auf einem guten Weg, aber 2006 halte ich nicht für realistisch.
Interview: Thilo Boss, Andreas Dunte, Bernd Hilder, Stefan Poppitz