Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 09.09.2005

Ein Todesfall mit Folgen

Weil eine NPD-Kandidatin starb, wählt halb Dresden erst nach dem 18. September
 
Der Tod von Kerstin Lorenz bringt die Wahl durcheinander. Nachdem die NPD-Bundestagskandidatin bei einer Kundgebung am Montag einen Hirnschlag erlitt, ins Koma fiel und am Mittwoch starb, kann halb Dresden am 18. September nicht mitstimmen.

Dresden · Weder kann die NPD auf die Schnelle einen Ersatzkandidaten aufstellen, noch können rechtzeitig neue Wahlzettel gedruckt und verschickt werden. Deshalb bleiben rund 219 000 Wahlberechtigte in Dresden zuhause, während der Rest der Republik entscheiden darf, wer Kanzler wird. Wer schon per Brief gewählt hat, darf später noch einmal abstimmen.

Sachsens Landeswahlleiterin Irene Schneider-Böttcher plant eine Nachwahl. Der Termin ist noch offen, sie hofft auf ein Wochenende Ende September oder Anfang Oktober. Innerhalb von sechs Wochen nach dem ursprünglichen Termin, so schreibt es das Gesetz vor, müssen im Todesfall eines Kandidaten Nachwahlen abgehalten werden. Am Abend des 18. September wird der Bundeswahlleiter nur ein vorläufiges Ergebnis verkünden - für ganz Deutschland minus halb Dresden.

Das Ableben der NPD-Frau macht aus den Stimmen des Wahlvolks im Wahlbezirk 160 (Dresden I) ganz besondere Stimmen. Halb Dresden wird nämlich, wenn es später an die Urnen schreitet, das vorläufige Ergebnis vom 18. September im Hinterkopf haben. Sollte der Rest der Republik äußerst knapp und spannend gewählt haben, ließe sich in den Dresdner Stadtteilen Striesen, Blasewitz, Plauen, Altstadt, Prohlis oder Gruna vielleicht der Kanzler noch einmal retten - oder stürzen.

So würde - im Falle eines hauchdünnen Wahlergebnisses - aus halb Dresden ein stimmgewaltiges Wahlvolk von Taktierern. Ihr Wissensvorsprung vor dem übrigen Wahlvolk ermöglicht ihnen den gezielten Einsatz ihrer Stimme. Eine Partei knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert? Lässt sich womöglich reparieren. Und uninteressante Parteien, deren Wahl sowieso nichts ändert, kann der Taktierer ignorieren.

Sogar der Fall einer nachträglichen Parteienbestrafung ist denkbar, spekulieren die Analytiker der Internetseite www.wahlrecht.de. Der Fall wäre allerdings bizarr: Bekäme die sächsische CDU am 18. September wieder Überhangmandate, weil sie deutlich mehr Direktwahlkreise gewinnt als Zweitstimmen bekommt, dann könnten beispielsweise listige Dresdner SPD-Anhänger die CDU anschließend beschädigen, indem sie ihr die Zweitstimme geben. Das würde die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmen verkleinern und hätte womöglich den Verlust der CDU-Überhangmandate zur Folge.

Bei der Bundestagswahl vor drei Jahren ging es so aus: In Dresden I gewann die CDU-Kandidatin Christa Reichardt das Direktmandat. Die meisten Zweitstimmen fielen aber auf die SPD. Gesamtdeutsch gezählt kam die SPD im September 2002 republikweit auf 18 488 668 Zweitstimmen, CDU und CSU auf 18 482 641 - macht ein Unionsminus von gerade einmal 6027. Sollte es wieder so knapp sein, entscheidet sich vielleicht in der sächsischen Landeshauptstadt, wer stärkste Fraktion im Bundestag wird.

Vielleicht wird aber auch alles ganz langweilig. Sollte am Abend des 18. September nämlich alles klar sein, dann könnte es bei der Nachwahl einige Wochen später furchtbar fade werden: Das Wahlvolk Dresden I bleibt dann mangels Entscheidungsgewalt und historischer Bedeutung einfach zuhause.
Bernhard Honnigfort