Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 20.09.2005

Die Zäsur

Kommentar von Wolfgang Storz
 
Es ist das Besondere an diesem Wahlergebnis, dass Angela Merkel und Gerhard Schröder verloren haben. Die Kandidatin vermochte es nicht, aus einer chancenreichen Oppositionsrolle heraus eine immer weniger geliebte Regierung zu beerben; im Gegenteil: Ihre Partei verlor beträchtlich an Stimmen. Und Schröder und seine SPD? Die verloren noch deutlicher. Das Elend der politischen Klasse blitzte am Wahlabend immer dann auf, wenn die Kandidaten diesen Befund nur für den jeweils anderen gelten lassen wollten. Es war besonders greifbar, als der amtierende Kanzler versuchte, das traditionelle Erstzugriffsrecht der stärksten Fraktion wegzuwischen und das Wahlergebnis umzudeuten. Dies, indem er vor einem Millionen-Publikum demoskopische Befunde über Sympathie und Glaubwürdigkeit von Kanzlerkandidaten zu einem für sich erfolgreichen Plebiszit schmiedete, statt das reale Ergebnis seiner Partei zu akzeptieren.

Warum haben beide Kandidaten so eindeutig verloren? Sie hatten - der eine im praktischen Tun als Kanzler, die andere im Reden als Kandidatin - in den Augen großer Teile des Wahlvolkes das Soziale abgesprengt. Dass die Folgen für Schröder - gemessen an den Voraussagen - milder als für Merkel ausfielen, liegt ja ausschließlich daran, dass Oskar Lafontaine ihn rettete, indem er die Linkspartei souverän über die Fünf-Prozent-Hürde hievte und damit den schwarz-gelben Vorsprung vor Rot-Grün neutralisierte.

Wenn große Parteien sich gezwungen sehen, vom Sozialen abzulassen, zeigt dies, dass sie es sich weder zutrauen noch glaubwürdig vermögen, alle großen Interessen in einer Partei abzubilden. Insofern spricht viel dafür, dass diese Wahl eine Zäsur markiert: Der Abschied von den Volksparteien wird sichtbar. Unterschiedliche Koalitionen mit mehreren Partnern werden möglich, ebenso Minderheiten-Regierungen, die sich je nach Projekt Mehrheiten zusammensuchen. Die Wähler haben diesen Prozess gewollt. Nur noch 70 Prozent sind bereit, den Großparteien inhaltliche Blanko-Schecks auszustellen. Beliebter sind Parteien, die zu einzelnen zentralen Punkten klare Positionen haben: die FDP zu Mittelstand und Steuersystem, die Grünen zur Ökologie, die Linkspartei zum Gewicht des Sozialen. In Skandinavien ist dies parlamentarischer Alltag. Viel spricht dafür, dass eine Regierungs-Konstellation aus profilierten Parteien stabiler sein kann als eine aus zwei Großparteien, die es inhaltlich ständig zu zerreißen droht.

Die Optionen haben sich rechnerisch vermehrt, die Situation ist ungewohnt, ungeübt die ersten Bewegungen der Politiker. Wenn sie nun beraten, sollten sie beherzigen, was die Wählerinnen und Wähler ihnen mit diesem Ergebnis mitgegeben haben. Sie haben Schröder abgewählt und Merkel nicht gewählt. Sie haben mit einer Mehrheit knapp über 50 Prozent eine Grundorientierung gewählt, welche die Politik anhält, drei zentrale Punkte nicht gegeneinander auszuspielen: eine wettbewerbsfähige Wirtschaft vereint mit einer sozialen und ökologischen Politik und einem leistungsfähigen Staat, der dafür den Rahmen setzt. Diese Grundeinstellung spiegelt sich in der gesellschaftlichen Mehrheit links von der Mitte wider, die sich aus der Addition der Ergebnisse für SPD, Grüne und Linkspartei ergibt. Das führt heute zu keiner handlungsfähigen Regierung, dennoch kann es von keiner Partei ignoriert werden.