Karl Nolle, MdL

Berliner Zeitung, 19.09.2005

Schröder im Rausch

Feuilletonbeitrag von Arno Widmann
 
War Schröder gestern Abend ernsthaft verrückt oder war er verrückt vor Freude?
Wer Gerhard Schröder in der Berliner Runde sah, erlebte ihn im Rausch. Er konnte beobachten, was das Gute an Rot-Grün war: Als der Sozialdemokrat Gerhard Schröder den schweifenden Haschrebellen machte, wurde Joschka Fischer so kühl als hätte er niemals auch nur das Wort Joint gehört. Gerhard Schröder war in einem Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit. Er saß da und behauptete, er habe die Wahl gewonnen, es sei seine Aufgabe, die Regierung zu stellen. Jeder, der das Gegenteil sage, betreibe Hetze gegen die Sozialdemokratie.

Es ist viel über den Realitätsverlust der Politiker geschrieben und gesprochen worden. Gestern Abend war er zu besichtigen. Bundeskanzler Gerhard Schröder war außer sich. Sein Stellvertreter plädierte für Abbruch der Sendung, weil "heute Abend doch nichts mehr herauskommt". Er hätte genau so gut Schröder an die Hand nehmen und an zwei Herren in weißen Kitteln weitergeben können.

Da passierte das Gespenstischste, das man jemals im deutschen Fernsehen gesehen hatte. Schröder fiel ein Modul seiner Wahlkampfrede wieder ein und er spulte es ab. Mit exakt den Bewegungen, die den Text auf den Plätzen begleitet hatten. In diesem Augenblick bekam der Betrachter es mit der Angst zu tun. Es gibt in Science-Fiction-Filmen den Moment, da ein Roboter, der sich bis dahin erfolgreich für einen Menschen ausgegeben hatte, sich enttarnt. Ein solcher Moment war es als Schröder mit dieser Sätzen seiner Wahlkampfrede aufwartete. Es war ihm anzusehen, dass er die Sätze nicht dachte. Er sagte sie weniger als dass sie ihn sagten. Ein großer Augenblick in der Geschichte des Mediums Fernsehen und in der Geschichte der Bundesrepublik.

Man hat Schröder immer wieder "Medienkanzler" genannt. Gestern Abend konnte man für ein paar Minuten erleben, welchen Preis der Mensch Schröder dafür gezahlt hat. Er ist verschwunden in einer Maske und als er gestern die Maske nicht fand, da war er einfach nur noch irre und als er sie wieder fand, da konnten wir sie als Maske erkennen. Das war der Moment, da der Medienkanzler Gerhard Schröder starb. Wenn er Freunde haben sollte, so sollten sie ihn nehmen und in ein Sanatorium stecken, ihn rausholen aus seinem Rausch.

Es war auch ein Machtrausch. Auch darum war diese Sendung schrecklich. Sie zeigte, dass es Schröder nicht um den Sieg, geschweige denn um das eine oder die Deutschen quälende Problem ging. Es ging ihm einzig und allein darum, den Gegner zu schlagen. Es war ihm gleichgültig, dass er weniger Stimmen bekommen hatte als Angela Merkel. Er feierte, dass es ihm gelungen war zu verhindern, dass sie ihr Projekt hatte durchziehen können. In der Psychologie nannte man das, als man noch in solchen Kategorien dachte, einen destruktiven Charakter.

Das war das Beängstigende dieses Abends. Man blickte ein paar Minuten lang hinter die Kulisse des souveränen, die Schwierigkeiten - zwar mit großer Verspätung - aber dann doch beherzt anpackenden Staatsmannes. Zu sehen war jemand, der außer sich geriet bei dem Gedanken, dass es ihm gelungen war, seinem Gegner ein Bein zu stellen. Wenn man diesem Mann in der U-Bahn begegnete, man würde sofort das Abteil wechseln und an der nächsten Haltestelle die Aufsicht informieren. Undenkbar, dass so jemand uns regiert hat und uns weiter regieren will. Älteren Zeitgenossen wird Franz Joseph Strauss' berühmtester Auftritt in der "Bonner Runde" noch in Erinnerung sein. Er war betrunken. Er lallte. Aber er war nur ein wenig aus der Fasson geraten. Es war der gleiche Strauss wie immer. Schröder war völlig anders.

Vielleicht aber ist alles ganz anders gewesen. Vielleicht wusste Schröder etwas, was um 20.30 Uhr noch niemand wusste. Vielleicht hatte ihm Forsa-Chef Manfred Güllner gesagt, was erst eine Stunde später über die Agenturen kam, dass nämlich die SPD drei Sitze mehr haben werde als CDU/CSU. Gerhard Schröder hatte diesen noch geheimen, heimlichen Sieg gefeiert. Er triumphierte. Er raste vor Freude. Aber er durfte niemandem sagen, warum er so außer sich war. Das muss einen verrückt machen. Jedenfalls einen, der kein Roboter ist. Wenn es so war, was wir jetzt um 22 Uhr nicht wissen, dann hat diese verrückte Berliner Runde, diese schreckliche Veranstaltung uns gezeigt, wie recht wir haben mit unseren Eindrücken und wie unrecht wir haben können mit ihrer Interpretation. Wir verstehen Schröders Begeisterung, seine Jubellaune und wir verstehen, dass es ihn fast zerreißen musste, es nicht hinausschreien zu können. Wir finden ihn gerade darin großartig, einen Menschen, einen richtigen Menschen.

Dann fällt uns ein, dass er jetzt endlich das machen kann, was er schon 1998 am liebsten gemacht hätte: eine große Koalition. Vielleicht hat er auch darüber gejubelt. Er braucht die Grünen nicht mehr. Er ist nicht mehr der Kanzler einer wackligen immer wieder neu um Mehrheiten kämpfenden Koalition, sondern endlich der Kanzler - fast - aller Deutschen. Das ist die Rolle, in der er sich am liebsten sieht. In der ihn, man muss das auch sagen - eine große Mehrheit der Deutschen ebenfalls am liebsten sieht.

Wir wissen jetzt nicht, wie das vorläufige amtliche Endergebnis aussehen wird, aber es könnte sein, dass Gerhard Schröder um 20.30 zwar auch nicht auf dem Stand des vorläufigen amtlichen Endergebnisses war als er öffentlich ausflippte, aber doch immerhin schon auf dem Stand der Forsa-Berechnungen von 21.37. Das würde dem ganzen Auftritt ein ganz neues Gesicht geben.

Eine große Koalition unter Führung der SPD - daran hatte niemand gedacht. Nirgends. Auch nicht in dieser Zeitung. Wer sich an den Anfang von Münteferings und Schröders Wahlkampf erinnert, dem fällt jetzt wieder ein, dass beide kein Wort über die Grünen verloren, dass beide die vorgezogenen Neuwahlen damit begründeten, sie wollten klare Mehrheiten und einen klaren Wählerauftrag.

Wenn es bei dem jetzigen Forsa-Stand bleiben sollte, wenn die SPD tatsächlich wieder stärkste Fraktion im Bundestag werden sollte, dann hätte Schröder seinen Plan durchgesetzt. Einen Plan, den er, er ebenso wenig wie die Forsa-Ergebnisse, niemals ausplaudern durfte. Sobald er etwas davon durchblitzen ließ, liefen ihm wieder die Stammwähler davon. Wenn - es sind viele Wenns in diesem Artikel - alles so kommen sollte, dann ist Gerhard Schröder der größte Wahlkampfkämpfer aller Zeiten, der machiavellistischste Politiker, den die Bundesrepublik jemals hatte. Wir verneigen uns vor ihm und wir werden ihn das nächste Mal ganz sicher abwählen. Soviel Schnauze vertragen wir nicht.

Wir wissen zwar nicht, wie diese Wahl ausgehen wird. Aber wir wissen, dass in spätestens vier Jahren sehr, sehr viel dafür spricht, dass es eine ganz und gar Schröder freie Koalition Rot-Rot-Grün geben wird. Wenn der Unmut über das Zusammenstutzen des Sozialstaates, über die Arbeitslosigkeit bis dahin nicht auf radikale rechte Parteien umgewälzt wird. Dass das bisher nicht der Fall ist, ist das große - viel zu selten gepriesene, Glück dieser Wahlen.