Karl Nolle, MdL

Spiegel Nr. 8/2006, 20.02.2006

SEXUALTÄTER: Lücke im Raster

Das Martyrium einer in Dresden entführten Schülerin zeigt, wie leicht vorbestrafte Kinderschänder der Kontrolle der Polizei entwischen können.
 
Der Dresdner Stadtteil Striesen ist ein Viertel, das man als gutbürgerlich bezeichnen kann. Zwischen Elbe und dem Volkspark Großer Garten liegen hier viele sanierte Altbauten. „Willst du das Leben genießen, zieh nach Striesen", spricht der Dresdner Volksmund.

Ausgerechnet in der friedlichen Striesener Laubestraße beendeten Polizisten am Mittwoch vergangener Woche ein Martyrium: Fünf Wochen lang hatte der arbeitslose Anlagenbauer Mario M, die 13-jährige Gymnasiastin Stephanie R. in seiner Gewalt. Und fünf Wochen lang hatten Fahnder vergebens nach ihr gesucht. Das clevere Mädchen selbst musste sie schließlich auf die Spur bringen - obwohl Mario M. schon einmal als Kinderschänder verurteilt worden war und die Polizei ihn deshalb hätte kennen und überprüfen müssen.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Lässigkeit, mit der deutsche Behörden die Daten von Triebtätern behandeln: Während im Fall Stephanie offenbar Schlamperei verhinderte, dass Mario M. korrekt im Polizeicomputer erfasst wurde, informieren in den meisten Bundesländern die Einwohnermeldeämter nicht die Polizei, wenn ein Sexualtäter umzieht. Die Daten von einschlägig Vorbestraften werden zwar 10 oder gar 20 Jahre lang im Polizeicomputer gespeichert. Und die Fahnder können, wenn sie einen Verdacht haben, jederzeit auf die aktuellen Bestände der Meldebehörden zugreifen.

Aber die Meldeämter wiederum wissen in der Regel nichts von der kriminellen Vergangenheit der Bürger. Und so können Sexualstraftäter Ermittlern entgehen, die nach Verdächtigen in einer bestimmten Region suchen.

Mario M. war vor anderthalb Jahren aus der lärmenden Dresdner Neustadt ins ruhige Striesen gezogen. Er ist ein Mitdreißiger, der meist dunkle Kleidung trägt, regelmäßig seine beiden Hunde ausführt und seinen Nachbarn reserviert begegnet.

Von seiner Vergangenheit ahnten die Bewohner des Hauses nichts: 1999 hat, der breitschultrige Mann mit der Stoppelfrisur ein 14-jähriges Mädchen missbraucht. Drei Jahre und vier Monate sollte er im Gefängnis sitzen. Er brummte einen Großteil seiner Strafe ab, 2002 wurde er vorzeitig entlassen.

Denn eine Psychologin, erfahren in der Beurteilung von Triebtätern, hatte Mario M. in einem umfassenden Gutachten eine positive Prognose gestellt: Von ihm seien keine Straftaten mehr zu erwarten. Ein verhängnisvoller Fehler, wie er schon vielen Gutachtern unterlaufen ist.

Das Verhalten des Mannes in der Freiheit schien die Expertin zunächst zu bestätigen. Mario M. hielt sich an alle Auflagen, erschien pünktlich zu den Treffen mit seiner Bewährungshelferin. Es sah so aus wie eine gelungene Resozialisierung.

Bis Mittwoch voriger Woche: Gegen Mittag klingelten die Polizisten an der Tür seiner Wohnung. Es regte sich nichts, aber durch die halbgeschlossenen Jalousien sahen die Beamten, dass Licht brannte. Sie bestellten einen Schlüsseldienst, der die Wohnung öffnete. Mario M. trug nur Unterwäsche.

Und dann sahen die Fahnder das junge Mädchen im hinteren Teil der Wohnung: leicht bekleidet und verängstigt. Stephanie war fünf Wochen zuvor morgens zwischen sieben und halb acht auf dem Weg zur Schule verschwunden - Mario M. hatte sie abgefangen und in seinen roten Kastenwagen gezerrt.

Auf die heiße Spur musste Stephanie die Polizei schließlich selbst bringen: Mario M. soll sie während der fünf Wochen zwar wiederholt sexuell missbraucht haben; manchmal soll er sie zudem, so die Fahnder, geknebelt und in eine enge Kiste gepfercht haben. Doch ab und zu ging er auch mit ihr spazieren, nachts. Und dabei ließ Stephanie an mehreren Orten kleine Zettel fallen. Auf den karierten Blättern stand mit rotem Filzstift geschrieben: „Hilfe" und darunter in Kinderschönschrift die Adresse, der Name ihres Entführers sowie der Satz: „Das ist kein Scherz."

Ein Anwohner entdeckte einen dieser Zettel am Mittwochmorgen neben einem Altpapiercontainer und brachte ihn zur Polizei.

Bis dahin hatten Dresdens Ermittler völlig im Dunkeln getappt. Nichts hatte die „Sonderkommission Stephanie" in der Hand. „Es war, als hätte sich die Erde aufgetan und das Mädchen verschluckt", sagt Sonja Krüssel, zuständige Dezernatsleiterin der Dresdner Polizeidirektion. Niemand hatte etwas gesehen, es gab keine Spuren, keinen verlorenen Schuh, keine Mütze, nichts.

Ihr Handy hatte Stephanie zu Hause gelassen, so war auch eine Ortung nicht möglich. Polizeisuchhunde schnüffelten immer wieder den Weg vom Haus der Eltern Joachim und Ines R. zum Hans-Erlwein Gymnasium ab, ohne Ergebnis. Hubschrauber kreisten über Striesen und dem Volkspark. Tausende Handzettel mit einem Foto des Mädchens im roten Anorak wurden verteilt, 78 Hinweise gingen daraufhin bei der Polizei ein, keiner davon half weiter.

Die Sonderkommission ermittelte in alle Richtungen: War Stephanie vielleicht einfach abgehauen, bei 13-jährigen Mädchen durchaus denkbar? Viel wahrscheinlicher aber wurde bald die wohl schlimmste aller Hypothesen - dass sie einem Kinderschänder in die Hände gefallen sein könnte.

Die Fahnder hielten sich nun an zwei Kriterien, die als gesichert gelten: Sexualstraftäter sind grundsätzlich rückfallgefährdet - und die meisten stammen nach einer Studie des Bundeskriminalamts aus dem „Nahraum des Opfers". Sie leben in der Regel höchstens 20 Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem sie ihr Opfer dann treffen. In vielen Fällen kommt der Täter sogar aus der unmittelbaren Nachbarschaft, aus einem Umkreis von 1000 Metern rund um die Wohnung des Opfers.

Die Ermittlungen konzentrierten sich also erst mal auf verurteilte Sexualstraftäter im Stadtviertel Striesen. Der Computer spuckte 56 Namen aus, von Pornofreaks, die auf Kinderbilder stehen, bis zu Vergewaltigern und Kinderschändern. Wochenlang überprüften die Beamten deren Alibis - eine sehr zeitraubende Arbeit. Fertig waren die Beamten mit der Liste bis zu Mario M.s Verhaftung noch nicht.

Es hätte ihnen auch nichts geholfen, denn der Name Mario M. stand gar nicht drauf: Im Polizeicomputer galt der vorbestrafte Sexualtäter nicht als Einwohner Striesens, obwohl er sich nach seinem Wohnortwechsel umgemeldet hatte. Er war noch unter seiner alten Adresse in der Dresdner Neustadt registriert. Doch nach einschlägig Vorbestraften in ganz Dresden hatten die Beamten den Rechner noch nicht gefragt. Also fiel Mario M. durch die Lücke im Raster der Sonderkommission.

Das Dresdner Innenministerium spricht inzwischen selbst von einer Panne. Die Daten hätten aktualisiert sein müssen, denn laut Ministeriumssprecher Andreas Schumann teilen die Meldeämter in Sachsen der Polizei regelmäßig Wohnwechsel mit. Und in der Tat stellte sich Ende voriger Woche bei einem erneuten Computercheck etwas ganz Merkwürdiges heraus: Nun war M. im Polizeiauskunftssystem unter der Striesener Adresse erfasst - allerdings fehlte jetzt jeder Verweis auf seine Vergangenheit als Sexualstraftäter. Geführt wurde er nur als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren von 2004, er hatte jemanden bedroht. Mario M. wäre also wieder durchs Raster gefallen.
Von Andreas Wassermann