Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 24.02.2006

Große Hoffnung, schwere Lösung

Mindestlohn. Die Koalition diskutiert, will sich aber noch nicht festlegen.
 
Rund 3,3 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland leben nach Berechnung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) trotz eines Vollzeitjobs an der Armutsgrenze. Das heißt, sie verdienen weniger als 1 442 Euro brutto im Monat. Jeder sechste Beschäftigte zählt zu den Geringverdienern mit weniger als 1 630 Euro im Monat, wie das Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) ermittelt hat.

Seit 1997 weitet sich dieser Niedriglohnsektor aus. Vor allem Frauen, junge Leute und Ungelernte müssen häufig mit Billiglöhnen vorlieb nehmen. In vielen Branchen sind die Löhne unter Druck geraten, auch wegen der Billigkonkurrenz aus dem Ausland. Seit langem fordern die Gewerkschaften gegen den entschiedenen Widerstand der Arbeitgeber einen gesetzlichen Mindestlohn. Damit soll die weitere Verbreitung von Dumping-löhnen verhindert werden. In Teilen der Union, die eine untere Lohngrenze bisher abgelehnt hat, setzte inzwischen hat ein Umdenken ein. „Jetzt diskutieren wir darüber“, erläutert der CDU-Abgeordnete Michael Hennrich.

Konzept bis zum Sommer

Auch Arbeitsminister Franz Müntefering will verhindern, dass der Ertrag aus einem Vollzeitjob nicht mehr zum Leben ausreicht. Bis zum Sommer will die große Koalition ein Konzept erarbeiten, das auf zwei Beinen stehen dürfte. Einerseits sollen Kombilöhne eingeführt werden, um sonst chancenlosen Langzeitarbeitslosen die Rückkehr auf dem Arbeitsmarkt zu erleichtern. Andererseits soll ein Mindestlohn dafür sorgen, dass die staatlichen Lohnzuschüsse von den Arbeitgebern nicht zu Mitnahmeeffekten genutzt werden. Außerdem wollen Koalitionspolitiker damit Lohndumping als Folge offener Dienstleistungsmärkte in Europa verhindern.

Noch werden die möglichen Wege sorgfältig geprüft. Ein Reinfall wie bei den übereilt beschlossenen Hartz-Gesetzen solle unbedingt vermieden werden, meint ein Abgeordneter. Eine der schwierigen Fragen ist die Höhe einer Lohnuntergrenze. Eine Festlegung gibt es entgegen einer Meldung, die von sechs Euro Stundenlohn berichtete, nach Angaben aus beiden Regierungsfraktionen noch nicht.

Ob ein einheitlicher Mindestlohn in Deutschland Sinn macht, ist unter Fachleuten umstritten. Die Arbeitgeberverbände lehnen eine Regelung rigoros ab. Jede Form würde die Arbeitsmarktlage bei einfachen Tätigkeiten weiter verschärfen, warnt Arbeitgeberpräsident Hundt. Tatsächlich gibt es jetzt schon Tarifverträge, die deutlich unter den genannten Hausnummern für einen Mindestlohn liegen. Der Wachmann in Schleswig-Holstein verdient 5,60 Euro, die Friseurmeisterin in Sachsen 5,59 Euro.

In 18 der 25 EU-Staaten ist eine Lohnuntergrenze vorgeschrieben – deren Höhe jedoch sehr unterschiedlich. Mit Stundenlöhnen zwischen 7,63 und 8,69 Euro liegen die Beneluxstaaten, Frankreich, Großbritannien und Irland an der Spitze. In Mittel- und Osteuropa werden hingegen nur zwischen 67 Cent und 1,58 Euro angesetzt.

Die britischen Erfahrungen mit dem 1999 eingeführten Mindestlohn werden hierzulande besonders interessiert verfolgt. Die Arbeitgeber auf der Insel hatten anfangs vor erheblichen Arbeitsplatzverlusten gewarnt. Diese Sorge hat sich aber nicht bestätigt.
Von Wolfgang Mulke, Berlin