Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 22.03.2006

Abschiebung in Dresden

Wie Polizisten zu Kindesentführern wurden
 
Um an seine angolanische Mutter heranzukommen, haben vier Dresdner Polizisten einen Dreijährigen aus seinem Kindergarten mitgenommen. Der Mutter sollen sie gedroht haben, das Kind notfalls alleine abzuschieben. Behördenkritiker sprechen von "Geiselhaft".

Hamburg/Dresden - Die Erzieherinnen der Kita am Limbacher Weg staunten nicht schlecht: Eigentlich treffen morgens um viertel nach acht ihre kleinen Schützlinge ein. Doch am Morgen des 6. März standen ihnen plötzlich ein Polizist und eine Polizistin gegenüber. Die Beamten hatten keine Umwege gemacht: Obwohl ein Zettel am Eingang Besucher bittet, sich bei der Kita-Leitung zu melden, waren die beiden Uniformierten direkt nach dem Betreten des dreistöckigen Plattenbaus in Dresden-Gorbitz zum Aufenthaltsraum marschiert, in dem sie den Gesuchten vermuteten - den dreijährigen Leandro.

Leandro, ein stiller, unauffälliger Junge, der von seinen Betreuerinnen auch Leo gerufen wird, müsse jetzt mit ihnen kommen, forderten die Polizisten. Ute Horn, die Leiterin von Leos Kindergruppe, war perplex. Worum es denn gehe? Die Polizisten schwiegen. "Die Betreuerinnen haben erst gedacht, dass Leos Mutter etwas passiert sei", berichtet Jana Judisch SPIEGEL ONLINE. Judisch ist Öffentlichkeitsarbeiterin bei der gemeinnützigen "Outlaw"-GmbH, dem Träger der Dresdner Tagesstätte.

Polizisten rufen Verstärkung

Schließlich rückten die Beamten mit der Wahrheit heraus: Leo und seine Mutter sollten abgeschoben werden. Denn die Frau hatte den Leitern der Kindertagesstätte verschwiegen, dass die Asylanträge für sie und ihren Sohn schon vor Jahren abgelehnt worden waren. Im Juli 2005 hatte die zentrale sächsische Ausländerbehörde in Chemnitz die Abschiebung der 31-Jährigen und ihres Kindes verfügt und die Polizei in Dresden um Amtshilfe gebeten. Dort wohnte die Frau in einem Asylbewerberheim. Das Kind müsse daher jetzt mitkommen, insistierten die Polizisten. Was sie nicht sagten: Leo sollte ihnen als Druckmittel dienen, damit sich seine Mutter ihrer Abschiebung fügte.

Doch die Betreuerinnen weigerten sich, das Kind einfach aus ihrer Obhut zu entlassen. Überrascht von dem Widerstand riefen die Polizisten Verstärkung. Kurze Zeit später trafen zwei weitere Beamte im Limbacher Weg ein. In einer Pressemitteilung wird "Outlaw" später von einem "völlig unangemessenen, einschüchternden und aufdringlichen Verhalten" der Polizisten sprechen, das zu einer "erheblichen Störung" des Betriebes geführt habe.

"Die Pädagoginnen sind den üblichen Weg gegangen und haben die Mutter angerufen", sagt Judisch. Die Frau habe zwei Bevollmächtigte geschickt, um das Kind abzuholen. Doch die Beamten seien "vehement" eingeschritten: "Nee, Sie können das Kind nicht mitnehmen, der muss mit uns kommen", hätten sie gesagt, so die Öffentlichkeitsarbeiterin. Schließlich stieg Horn mit Leo in den Streifenwagen, der sie zum Kinder- und Jugendnotdienst des Dresdner Jugendamtes brachte. "Die Betreuerin hat mit Leo noch gespielt und versucht, ihn abzulenken. Aber dann wurde ihr gesagt, dass sie jetzt gehen müsse, die Mutter werde das Kind abholen", berichtet Judisch.

Anderthalb Stunden später seien die Polizisten wieder im Limbacher Weg aufgetaucht. Angeblich soll ein Beamter der Angolanerin am Telefon gesagt haben, wenn sie nicht zum Polizeirevier komme, werde das Kind allein nach Angola zurückgeschickt. Doch die Frau war nicht erschienen. Mit den Worten "so, der hat jetzt Hunger" hatten die Beamten den Jungen schließlich wieder in seiner Kindergruppe abgeliefert. Am Nachmittag holte schließlich ein Bekannter den Dreijährigen ab.

"Geiselnahme" löst Proteste aus

Das rüde Verhalten der Polizei hat in der Elbmetropole mittlerweile hohe Wellen geschlagen. "So ein Verhalten ist Geiselnahme", sagte die Dresdner Ausländerbeauftrage Marita Schieferdecker-Adolph SPIEGEL ONLINE. "Es ist ein übler Weg, über ein dreijähriges Kind eine Frau fangen zu wollen." Noch deutlicher wird die Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl". "Wir halten den Vorgang für skandalös. Die Geiselhaft eines Dreijährigen darf in einem Rechtsstaat nicht passieren", forderte Sprecherin Marei Pelzer. Die bundesweite Praxis, Familien zu trennen, um Druck auf die Abzuschiebenden auszuüben, gehöre insgesamt auf den Prüfstand.

Bei der Dresdner Polizei bedauert man inzwischen, derart plump vorgegangen zu sein. Polizeisprecher Thomas Herbst räumte ein "unsensibles und unzweckmäßiges Verhalten" ein. Die Beamten hätten Mutter und Kind zu Hause abpassen sollen, um Komplikationen zu vermeiden. Die Polizei habe die Staatsanwaltschaft selbst um eine Prüfung des Sachverhalts gebeten. Die betroffenen Polizisten könne man nur suspendieren, falls sich die Vorwürfe erhärteten.

Christian Avenarius, Sprecher der Dresdner Staatsanwalt, bestätigte, dass nun gegen die vier Polizeibeamten und deren Vorgesetzten Ermittlungen laufen. Die Vorwürfe der Freiheitsberaubung, Entziehung Minderjähriger, der Nötigung und des Hausfriedensbruchs würden überprüft, sagte Avenarius. "Dass angeblich in dem Telefonat mit der Mutter mit der Abschiebung des Kindes gedroht wurde, das ist schon heftig." Die grüne Landessprecherin Eva Jähnigen verlangte in der "taz" eine Entschuldigung gegenüber Mutter und Sohn. "Solche Muskelspiele sind mit unserem Rechtsstaat unvereinbar", sagte die Rechtsanwältin.

Auf den Rechtsstaat scheint sich Leandros Mutter nicht mehr verlassen zu wollen: Sie ist zusammen mit ihrem Sohn untergetaucht.
Von Roman Heflik