Karl Nolle, MdL

DIE WELT, 17.09.2006

Der moderne Sozialstaat

Leben auf Kosten der anderen: Das Land rückt nach links
 
Die Wahlen in Berlin kann nur gewinnen, wer die Stimmen der Arbeitslosen und Rentner bekommt. In der Hauptstadt leben bereits ebenso viele Menschen von Sozialtransfers wie von aktiver Arbeit. Die rot-rote Koalition aus SPD und Linkspartei muss hier allenfalls die noch rotere WASG fürchten.

Am Ende hatten es zwei Arbeitslose in das Prominentenlokal "Borchardt" am Berliner Gendarmenmarkt geschafft. Sie ließen sich auf die mit rotem Samt bezogenen Stühle plumpsen, verlangten die Speisekarte und bestellten den Klassiker des Restaurants: ein mächtiges Wiener Schnitzel, das an den Seiten über den Tellerrand ragt und von dem es heißt, dass auch Claudia Schiffer es sehr schätze.

Vor der Tür warteten 30 andere Arbeitslose und spähten durch die Scheiben. Sie waren an zwei Türstehern gescheitert, die das Restaurant an diesem Mittwoch vor seinem Eingang postiert hatte. 3000 Gutscheine für ein Essen im "Borchardt" hatte Lucy Redler, die Spitzenkandidatin der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), an Arbeitslose verteilt. "Einmal essen wie die Reichen", versprachen die Zettel. Die Rechnung allerdings sollten Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt übernehmen. Ungefragt. Mit dieser Wahlkampfaktion wollte die linke WASG gegen "Ungerechtigkeit" und "soziale Kälte" protestieren. Das jedenfalls brüllte Redler vor dem Lokal in ihr Megafon.

Von sozialer Kälte spürten die beiden Arbeitslosen im Speisesaal des "Borchardt" indes wenig. Die Rechnung für Getränke, Schnitzel und lauwarmen Kartoffelsalat, insgesamt 45,20 Euro, übernahm das Restaurant. "Es kommt ja öfter vor, dass Gäste nicht gleich zahlen können", sagt Geschäftsführer Rainer Möckel. Man war vorbereitet.

Macht ja nix, solange die anderen die Zeche zahlen. Macht ja nix, solange man durchkommt und sich keiner beschwert. Leben auf Kosten anderer gehört in Berlin schon lange zum guten Ton - und das gilt nicht nur im Wahlkampf.

49 Prozent der 3,4 Millionen Berliner finanzieren ihr Leben nicht selbst, sondern hängen am Tropf des staatlichen Sozialsystems. Die meisten von ihnen sind arbeitslos - nur kurz vielleicht, wenn sie Glück haben, immer mal wieder oder schon jahrelang. In Berlin liegt die Arbeitslosenquote bei 17,4 Prozent der Erwerbspersonen und damit sieben Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. 433 000 Berliner, das sind fast 13 Prozent der Einwohner, haben seit mehr als einem Jahr keinen Job und leben von Hartz IV. Dazu kommen jene 146 000 Menschen, die als nicht arbeitsfähig gelten und von Sozialgeld leben. Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Stütze so etabliert wie in der Hauptstadt. Und nirgendwo sonst prägt die Arbeitslosigkeit die politische Landschaft derart stark wie in Berlin.

Heute wird in der Hauptstadt gewählt, und wenn die Meinungsforscher nicht völlig danebenliegen, wird der Regierende Bürgermeister auch nach der Wahl Klaus Wowereit (SPD) heißen. Offen ist nur, ob er künftig weiter mit der Linkspartei koaliert oder mit den Grünen. Auf überzeugende Erfolge kann sich der rot-rote Senat kaum stützen: In seiner Amtszeit verschwanden 15 000 Arbeitsplätze, Unternehmen machen um die Hauptstadt weiterhin einen Bogen, das Wohlstandsniveau ist niedrig. Doch der Bürgermeister ist beliebt, und sein Partner Linkspartei wirbt dafür, dass sich für Transferempfänger möglichst nichts ändern möge.

17 Prozent plus x ist das Wahlziel der Linkspartei, die mit der SED-Nachfolgerin PDS fusionierte. Die konkurrierende WASG, für die in Berlin fast nur Arbeitslose antreten, kam in den letzten Prognosen auf drei bis fünf Prozent. Hätten sich die beiden Parteien am linken Flügel nicht überworfen, könnten sie gemeinsam so viele Stimmen erzielen wie die farblose Hauptstadt-CDU, die in den letzten Umfragen bei 21 Prozent herumdümpelte.

Auch bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern wird die amtierende rot-rote Regierung unter Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) heute vom sozialen Elend profitieren, das sie verwaltet, statt die Lage zu verbessern. In "Meck-Pomm" suchen 18,2 Prozent aller Erwerbspersonen einen Job, das ist bundesweit Rekord. Fast 16 Prozent aller Einwohner leben von Hartz IV oder Sozialgeld. Mit 18 Prozent der Stimmen rechnet nun die Linkspartei.

Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind nur die Vorboten eines Trends. Je mehr Menschen vom Sozialstaat abhängen, desto mehr verändern sich auch die politischen Mehrheiten. "Empfänger staatlicher Transfers wählen generell eher Linksparteien oder die SPD", sagt Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstitutes tns-emnid. "Derzeit können wir allerdings beobachten, dass sich die Transferempfänger vor allem den kleineren Parteien zuwenden." Und in der Hauptstadt bedeutet das: den beiden Linksparteien.

Bundesweit lässt inzwischen jeder Dritte sein Leben vom Staat finanzieren oder von den staatlich organisierten Sozialversicherungen. 29,9 Prozent aller Deutschen sind von öffentlicher Unterstützung abhängig. Die meisten von ihnen (22,1 Prozent) sind Rentner. Sie haben zwar ein Leben lang Beiträge gezahlt, heute aber kommt jeder vierte Euro der klammen Rentenkasse aus dem Bundeshaushalt und damit direkt von den Steuerzahlern. Die zweitgrößte Gruppe (5,5 Prozent) stellen die Arbeitslosen. Dazu gesellen sich Sozialgeldempfänger, Asylbewerber, Vorruheständler und Studierende mit BAföG.

Während der Streit über die Kürzung von Sozialleistungen die öffentliche Debatte bestimmt, bläht die reformscheue Politik den Sozialstaat in Deutschland von Jahr zu Jahr weiter auf. Sozialleistungen machen längst den mit Abstand größten Brocken der Staatsausgaben aus. Im Jahr 2003 (dies ist die aktuellste, verfügbare Zahl) flossen mit 566,1 Milliarden Euro rund 56,4 Prozent aller Ausgaben von Bund, Ländern, Städten und Gemeinden in soziale Wohltaten - von der Arbeitslosenversicherung über die Sozialhilfe bis zu Ausgleichszahlungen für Kriegsversehrte. Noch 1994 kam der Sozialstaat mit rund 400 Milliarden Euro aus. Im Oktober gibt das Statistische Bundesamt die Höhe der Sozialausgaben für 2004 bekannt: Es wird ein neuer Rekord erwartet. Und je höher die Ausgaben, je größer die Zahl der Empfänger, umso größer wird der Zuspruch für die politische Linke.

In den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts, als Wirtschaft und Bevölkerung wuchsen, hätten Politiker den Sozialstaat ausgebaut und Versprechungen auf die Zukunft gegeben, sagt Thomas Straubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschafts-Instituts (HWWI). "Nun ist die Zukunft Gegenwart, und die Versprechungen sind zu Kosten geworden - weil weder die Wirtschaft noch die Bevölkerung stark wachsen, sondern stagnieren."

Der ausufernde Sozialstaat aber zehrt das Land aus. Summen, die in den Sozialkonsum fließen, sind für die Zukunft weitgehend verloren. Für Investitionen in Maschinen, Schulen, Universitäten oder Straßen können sie nicht mehr ausgegeben werden. Erst solche Investitionen aber sorgen dafür, dass auch künftig Menschen Einkommen erwirtschaften können.

In Deutschland wachsen die ersten Kinder in Familien auf, die in der dritten Generation von der Stütze leben, nicht nur in Berlin. Dort aber macht die Hauptstadt selbst vor, wie attraktiv es sein kann, auf Kosten anderer zu leben. Nicht nur jeder zweite Bürger hängt am Tropf des fürsorgenden Staates, sondern die gesamte Stadt, und Bürgermeister Wowereit macht das unter dem Slogan "arm, aber sexy" zum Programm. Rund 61 Milliarden Euro Schulden hat die Stadt angehäuft, den Großteil davon noch unter einer CDU-Regierung. Nun klagt Berlin vor dem Verfassungsgericht auf Finanzhilfe des Bundes. Die ganze Nation möge Berlin aus dem Schuldensumpf ziehen, hofft die rot-rote Koalition. Die anderen Länder sind empört. Berlin habe ein Ausgabenproblem, "und zwar ein selbst verschuldetes", poltert Hamburgs Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU). Mit Zuweisungen aus Bund und Ländern habe Berlin so viele Einnahmen wie Hamburg. "Nur gibt Berlin je Bürger wesentlich mehr Geld aus." Und das gelte für alle Bereiche vom Sozialen bis zum Personal.

Dabei gebietet der Berliner Senat über viele Schätze. 27 Unternehmen gehören dem Land allein, an drei Dutzend ist es beteiligt. Im Jahr 2004 überwies der Senat 373 Millionen Euro Zuschüsse an diese Firmen. Berater drängen die Stadt daher, Betriebe zu verkaufen.

SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin würde der Aufforderung gern folgen. Dagegen sperrt sich jedoch die Linkspartei. Ihr Njet zu Privatisierungen steht im Wahlprogramm und gilt vor allem für die lukrativen Wohnungsbaugesellschaften: Die Stadt müsse "auf die Mietpreisentwicklung Einfluss nehmen", sagt die Linke. Von staatlich subventionierten Mieten profitieren die Bedürftigen, Wähler der Linkspartei.

Der Berliner Hans Norbert Disch zum Beispiel lebt seit vier Monaten von Hartz IV. Der 44-Jährige wird heute sein Kreuzchen bei der Linkspartei machen. "Die Linkspartei ist für mich die einzige Partei, die sich garantiert für den Sozialstaat in Deutschland einsetzt", sagt Disch. Die Hoffnung, bald wieder Arbeit zu finden, hat er aufgegeben. Disch hat sich in einem Callcenter beworben, aber der Chef wollte nur "junge, flexible Bewerber" einstellen. Er hat einen Ein-Euro-Job angenommen, aber dauerhaft wollte der Betrieb ihn nicht einstellen. Daran, dass ein Aufschwung ihm einen Job bringen könnte, glaubt er nicht mehr. Deshalb wählt er sicherheitshalber jene Parteien, die versprechen, seine Arbeitslosigkeit zu subventionieren. "Die von der Linkspartei sind doch die Einzigen, die sich für eine Umverteilung von unten nach oben einsetzen", sagt Disch. Er ist unten.

Die Rechnung ist einfach. Wer keine Arbeit hat, ist auf kurze Sicht darauf angewiesen, dass die Stütze hoch bleibt. Wer Arbeit hat und die Stütze der anderen finanzieren muss, will von seinem Bruttolohn möglichst viel behalten. Niedrige Steuern und Abgaben für ihn bedeuten aber weniger Geld für die anderen. In diesem Spannungsfeld buhlen Politiker um Mehrheiten.

Bisher waren die Erwerbstätigen in Deutschland stets in der Überzahl. Doch ihr Einfluss sinkt. 1965 stellten sie noch 82,6 Prozent der Erwachsenen, im Jahr 2005 war ihr Anteil auf 60 Prozent geschrumpft. Das Gleichgewicht zwischen Leistungsempfängern und Leistungsträgern droht zu kippen.

So endete die Ära des Kanzlers Gerhard Schröder mit der Hartz-IV-Reform. Aus den Protesten der Arbeitslosen gründete sich die Linkspartei und drohte, die SPD zu spalten. Durch Neuwahlen wollte Schröder seine Regierungsmacht retten - und scheiterte. Angela Merkel warb für einen echten Kurswechsel mit einfachen Steuern und Kopfpauschalen in der Krankenversicherung - und scheiterte ebenfalls. Am Ende wählten die Bürger eine Große Koalition, die es ohne die Linkspartei nie gegeben hätte.

47 Millionen der 60 Millionen Wahlberechtigten gingen vor einem Jahr zur Wahl. Hätten alle 25 Millionen Transferempfänger ihre Stimme abgegeben, hätten sie schon 2005 die Mehrheit gestellt.

In Berlin forderte vor der Wahl eine "Partei der Arbeitslosen" nicht etwa eine Politik für mehr Arbeit, sondern ein garantiertes Grundeinkommen. Auch im Bund verspricht die Koalition aus Union und SPD mittlerweile, es werde keine Einschnitte im Sozialstaat geben. Gesundheitsreform? Verwässert. Rentenreform? Utopisch. Einschnitte beim Arbeitslosengeld? Unmöglich. Änderung des Kündigungsschutzes? Abgeblasen. Lieber verteilt die Regierung wieder Mildtaten: Elterngeld für Mütter und Väter, gleiche Hartz-IV-Sätze in Ost und West. Mehr geht im Sozialstaat immer. Weniger geht nie.

Längst drängt es auch die Konservativen wieder nach links, angeführt von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). Für ihn ist es eine "Lebenslüge" der Union zu glauben, sinkende Steuersätze würden zu mehr Arbeitsplätzen führen. Das hätte die Linkspartei hübscher nicht formulieren können. Sie beide sprechen dem Wahlvolk aus dem Herzen. Nur noch 41 Prozent der Deutschen glauben, dass niedrigere Steuern ihnen neue Jobs verschaffen. Auch das Volk rückt nach links.

Und wer gibt künftig in der SPD den Ton an? Auch hier gibt die Berlin-Wahl Indizien. Wowereit kokettiert bereits mit einer Kanzlerkandidatur. Gegen sein "arm, aber sexy" hat SPD-Chef Kurt Beck gerade den alten CDU-Slogan "Leistung muss sich wieder lohnen" gekapert. Jene Bürger, die mit ihrer Arbeit für sich und einen Transferempfänger sorgen, sind skeptisch. Der Spott von links aber war Beck sicher.
Von Cornelia Schmergal