Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 27.12.2006

Windmühlen und ganz viel Wärme

 
Stimmt doch. Nummer 12b steht an der Klingel. Und die richtige Straße in Altfranken ist es auch. Verblüfft stehen wir an diesem sonnigen Dezembermorgen vor einem kleinen, unscheinbaren Häuschen mitten in einem verwunschen anmutenden Garten. Ob die Ministerin da drin...? Warum nicht? Doch am Klingelschild steht nicht Stange. Also weiter. Am besten der schwarzen Katze hinterher, die sich durchs Gras zum weißen Nachbarhaus mit dem Spitzdach schleicht. 12a, das könnte es vielleicht sein. Ist es auch, der Name stimmt. Die Hausherrin - so gar nicht ministeriell gekleidet in ihrem weißen Rollkragenpullover und den Jeans - erscheint in der Tür, schüttelt uns die Hand, bittet um Nachsicht wegen des kleinen Irrtums.

Da sitzen wir nun auf der Couch im geräumigen Wohnzimmer, nippen am Tee und riskieren einige verschämte Blicke. Die Neugier scheint unangemessen. Licht ist es hier, keine Gardinen verhängen den Blick nach draußen oder drinnen... Das Haus also. Wer sich eines baut, tut das nach seinen eigenen Vorstellungen. Oder denen der Architekten. Eva-Maria Stange hat zwei Bedingungen gestellt. Warm wollte sie's haben im gesamten Haus. Und von der Stube aus gleich in den Garten gehen können. Das mit der Sehnsucht nach Wärme rührt noch aus Kindertagen: "Ich bin in bescheidenen Verhältnissen groß geworden und erinnere mich noch gut, dass ich manchmal gefroren hab'." Und so gibt es denn - neben Heizungen in allen Räumen und einer Sauna im Keller - im Wohnzimmer das Symbol für Wärme schlechthin: einen Kamin, davor Kerzen in verschiedenen Variationen.

In der Schrankwand thronen neben einem Speckstein-Vöglein aus Namibia und zwei hölzernen kubanischen Musikanten auch die drei berühmten Affen. Das heißt, eigentlich sind es nur noch zwei. Der dritte nämlich, der nichts sehen will, der fehlt. "Den muss Knuffelchen, unser schwarz-braun-gefleckter Kater, mal aus Versehen abgeräumt haben", vermutet Eva-Maria Stange. Eine symbolische Bewandtnis habe das verschwundene Äffchen jedenfalls nicht. Gleichwohl: Seherische Fähigkeiten hätte die heutige Ministerin vielleicht doch manchmal ganz gut brauchen können.

1997 war so ein Jahr. Im Februar zogen die Stanges mit ihren drei Mädchen aus der Gorbitzer 74-Quadratmeter-Wohnung nach Altfranken, das frisch nach Dresden eingemeindet worden war. Dem Einzug waren (vorsichtig ausgedrückt) allerlei Komplikationen vorausgegangen - hier eine falsch gesetzte Wand, da ein zu kleines Fenster. Früher nannte man das Pfusch am Bau. Im Frühjahr dann, die Familie hatte sich gerade häuslich eingerichtet, wurde Eva-Maria Stange zur Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft gewählt. Sitz: Frankfurt am Main. "Manchmal wüsste ich schon gern vorher, was auf mich zukommt, ob es nicht vielleicht doch Harakiri ist, was ich da gerade mache." Vorsitz übernehmen hieß nämlich in ihrem Fall: Vater und Töchter bleiben in Dresden, Mutter mietet Zweitwohnung in Frankfurt, kommt Sonnabend Abend nach Hause, nimmt Montag früh den ersten Flieger nach Frankfurt. Keine Schonzeit. Sie hat's gemacht. Woche für Woche. Acht Jahre lang.

Die lange Arbeitszeit, die hat Eva-Maria Stange auch jetzt. Meist ist sie 7 Uhr im Ministerium ("ich bin ein Morgenmensch") und kaum vor 22 Uhr zu Hause. Manchmal wird's auch Mitternacht. Wenigstens muss sie nicht mehr pendeln. Aber Jammern gilt ohnehin nicht. Sie hat so einen Spruch: "Wenn der Wind der Veränderung weht, dann bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen." Sie rechnet sich zu den Windmühlenbauern. "Das Einzige, was ich wirklich geplant habe im Leben, war meine Ausbildung, war die Promotion." Bei allem, was danach folgte - erst GEW-Landes-, dann Bundesvorsitz, Rückkehr an die Uni und jetzt Chefin des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst - hatte vor allem der Zufall seine Hand im Spiel. Und dann gibt es noch diese indianische Weisheit, die ihr irgendwann mal untergekommen ist: "Wenn dein Pferd tot ist, steig ab". 1988 ist sie aus der scheintoten SED ausgetreten. Von innen heraus nicht reformierbar, hat sie damals für sich erkannt. Dass Eva-Maria Stange jetzt SPD-Mitglied ist, obwohl sie sich eigentlich geschworen hatte, niemals wieder einer Partei anzugehören, hat ganz viel auch mit Personen zu tun, die sie schätzen gelernt hat. Wolfgang Thierse nennt sie, auch Franz Müntefering.

Natürlich hat sie in der Frankfurter Zeit häufig ein schlechtes Gewissen gehabt. Immerhin war die Jüngste damals gerade mitten in der Pubertät. "Ich weiß noch, dass wir die Mathe-Hausaufgaben manchmal am Telefon durchgesprochen haben." Nicht unbedingt wünschenswert diese Situation, sagt sie denn auch aus heutiger Sicht. Zurück zum Stangeschen Haus, zu den beiden verbliebenen Äffchen in der Schrankwand, Mitbringseln von gewerkschaftlichen Dienstreisen. "Das machen wir noch mal richtig", hat Eva-Maria Stange zu ihrem Mann gesagt. Und beide sind sie nach Ägypten geflogen, nach Kuba auch. An der Wand im Flur hängen auf Fotopapier gebannte Augenblicke - Mädchen in farbenprächtiger Tracht, alte amerikanische Schlitten in Santiago.

Bleibt Eva-Maria Stange bei solch einem Arbeitspensum noch Zeit für ein gutes Buch, fürs Theater, die Oper? Biographien liest sie gern, über Quandt oder auch Einstein. Manchmal schafft sie am Abend nur drei, vier Seiten. Und qua Amt kommt die Ministerin nun freilich viel öfter als früher in den Genuss der schönen Künste. Den "Faust I" haben sich die Stanges jetzt im Schauspielhaus angesehen. Und im "Cats"-Musical waren sie schon dreimal.

Eva-Maria Stange ist ein Familienmensch, auch wenn's auf den ersten Blick nicht danach aussehen mag. An Geburtstagen und auch über Weihnachten bevölkern alle drei Stange-Mädchen samt Anhang das Haus in Altfranken: Katrin (28), die bei Frankfurt/ Main einen guten Job als Betriebswirtin bekommen hat, Annett (26), die ein Forschungsstudium in Dresden absolviert, und Franziska (21). Sie hat hier Köchin gelernt und den Eltern am Nikolaustag ein Enkelchen beschert. Max, das zweite Enkelkind, ist schon acht. Eva-Maria Stanges Schwiegereltern wohnen in einer Einliegerwohnung mit im Haus. Zur Familie dürfen sich des weite-ren auch "Knuffelchen", der eingangs erwähnte Kater mit dem Affen auf dem Gewissen, und sein schwarzer Artgenosse namens "Dicko" rechnen. "Der schwarze Kater ist unserer Jüngsten vor vielen Jahren in Gorbitz zugelaufen, ,Knuffelchen' haben wir als Baby aus dem Tierheim geholt", erklärt Eva-Maria Stange die Herkunft.

Mit der Dekoration in der guten Stube sollten die beiden Kater in diesen Tagen lieber pfleglich umgehen: Eine Riesenpyramide dreht sich da, auch der Schwibbogen macht sich gut auf dem Fensterbrett, und ein als Räuchermann verkleideter "Lehrer Lämpel" pafft sein Pfeifchen. Ein dezenter Hinweis auf ihr früheres Lehrerdasein. "Alles aus Seiffen", sagt Eva-Maria Stange, "und diesmal haben wir längst nicht alles ausgepackt". Auch aus Seiffen, aber eher nicht weihnachtlich: filigran gedrechseltes Puppenstuben-Mobiliar in der Glasvitrine. Gekauft nach der Wende. Ein Stück ins Erwachsenensein hinübergerettete Kindheit vielleicht. Und das Pendant zur Modelleisenbahnanlage von Ehemann Bernd, die ihren Platz unterm Dach hat...

Als wir wieder hinaustreten in den sonnigen Tag, treffen wir auf einen alten Bekannten. Es ist der schwarze Kater. Zufrieden liegt er im Gras, scheint uns zuzublinzeln und sagen zu wollen: Seht ihr, ich hab' euch doch gleich gesagt, dass wir hier wohnen.
Katrin Richter