Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland, 11.05.2007

Innerparteiliche Kritiker in der SPD

Die SPD lässt sich als Kronzeuge an die Wand nageln - Rudolf Dreßler über Mittun beim Sozialabbau und ein Refugium sozialdemokratischer Positionen in der Linkspartei
 
Rudolf Dreßler galt Jahrzehnte als führender Sozialpolitiker der SPD. Er arbeitete 1982 als Staatssekretär beim Bundessozialminister, war Chef der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Vize-Fraktionschef, leitete den Arbeitskreis Sozialpolitik der Fraktion– und wurde 1998 dennoch von Kanzler Schröder nicht zum Sozialminister ernannt. Zuletzt war Dreßler Botschafter in Israel. Mit dem 66-Jährigen sprach Gabriele Oertel .
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ND: Sie sind 2005, nach fünf Jahren, aus Israel zurückgekehrt und haben festgestellt, dass sich Deutschland sehr gewandelt hat. Welche Veränderung registrieren Sie?

Dreßler: Was die Politik betrifft, eine unübersehbare Oberflächlichkeit. Es wird nach dem alten deutschen Manager-Motto verfahren »Sachkenntnis stört das Urteilsvermögen«. Und das ist im Ergebnis schlimm. Hört man sich O-Töne von Repräsentanten der Parteien an, dann wird nicht mehr im Detail versucht etwas zu erklären, sondern Stimmung gemacht. Dass sich Sozialdemokraten daran nach Kräften beteiligen, spricht für sich.

Sie haben lange als SPD-Sozialpolitiker im Bundestag gearbeitet, auch zwei Jahre unter Rot-Grün. Der Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik ist durch Rot-Grün eingeleitet und als bitter nötig bezeichnet worden. Falsch?

Bezeichnet man einen Paradigmenwechsel als nötig, muss man die Anforderungen der Zukunft erklären können. Der in der Sozialpolitik eingeleitete Systemwechsel bedeutet nämlich, dass die Sozialsysteme nicht mehr von Arbeitnehmern und Unternehmen paritätisch getragen werden, sondern die Beschäftigten die ganze Veranstaltung sukzessive alleine zu bezahlen haben. Wer diese Tür einmal öffnet, wird es schwer haben, sie wieder zu schließen. Die Unternehmerverbände werden weiter fordern, den Arbeitgeberanteil bei Rente, Gesundheit, Pflege und Arbeitslosenversicherung zu mindern, das heißt für Arbeitnehmer weiter zu erhöhen. Dass die sich auch noch auf die SPD berufen können, ist verheerend.

Tut Ihnen das weh?

Das können Sie laut sagen.

Der DGB in Bayern hat SPD-Bundestagsabgeordnete zum 1. Mai ausgeladen, die der Rente mit 67 und der Gesundheitsreform zugestimmt haben. Sie durften reden. Sie saßen 20 Jahre für die SPD im Bundestag. Wie viele falsche Mitentscheidungen haben Sie in dieser Zeit getroffen?

Ich habe sie nicht aufgelistet, aber mit Sicherheit habe ich auch falsche Entscheidungen getroffen. Allerdings habe ich keinen Systemwechsel nach rückwärts mit eingeleitet. Und überall da, wo derlei in der damaligen christlich-liberalen Koalition in Planung war, haben wir das aus der Opposition heraus verhindert. Ich hätte nie geglaubt, dass die SPD diesen Systemwechsel einleiten wird und immer dann, wenn das Thema auf der Tagesordnung steht, als Kronzeuge an die Wand genagelt werden kann.

Sie kritisieren die Politik der SPD scharf – reden ob der Umfragewerte inzwischen spöttisch vom Projekt Möllemann. Auf wie viel Gegenliebe sind Sie damit bei Ihren einstigen Weggefährten Beck und Müntefering gestoßen?

Was in den Köpfen von Herrn Beck und Herrn Müntefering vorgeht, kann ich nicht sagen.

Es gibt keine Reaktionen?

Nein, das habe ich auch nicht erwartet.

Dabei haben Sie sogar von der Verkommenheit der SPD gesprochen. Starker Tobak!

Das bezog sich auf einzelne Personen, nicht auf die Partei generell. Einigermaßen umgehauen hat mich beispielsweise, als der Vorgänger des jetzigen SPD-Generalsekretärs in der Programmdebatte den Satz »Die SPD ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit« abzuändern versuchte, indem er das Wort »sozial« streichen wollte, weil Gerechtigkeit umfassender wäre. Ironisch sei angemerkt, dass man das Wörtchen dann auch bei der SPD aus dem Parteinamen rausnehmen könnte, denn demokratisch ist wohl auch umfassender als sozialdemokratisch. Das ist, um es höflich zu sagen, verkommen, und zwar ideologisch verkommen.

Über Hunderttausend sind inzwischen aus der SPD ausgetreten. Wie schätzen Sie die Gefühlslage der Funktionäre der Partei ein?

Ich weiß nur eins: Wenn die Funktionäre die Diskussionen in der Partei nicht zur Kenntnis nehmen, dann ist ihnen objektiv nicht mehr zu helfen. Die Stimmung, wohin man auch geht, ist katastrophal. Das kann Funktionären nicht verborgen bleiben – selbst dann nicht, wenn sie wegzuhören versuchen. Und zwingt das nicht zu Schlussfolgerungen, sollten es die Umfragewerte tun. Man kann sich doch mit 26 Prozent nicht mehr als Volkspartei definieren.

Offenbar aber sehen die Spitzenfunktionäre der SPD keinen Handlungsbedarf. Vielmehr gelten denen Leute wie Sie als Nostalgiker oder Traditionalisten.

Ach, mit diesem Begriff hat schon, als ich noch aktiv war, ein Teil der Partei operiert. Das ist ein Kampfbegriff, mit dem man von eigenen Schwächen ablenken will. Wieso das, was da gemacht worden ist, das Prädikat modern verdient, entzieht sich meiner Wahrnehmung. Ich kann nicht erkennen, dass modern sein soll, wenn Millionen Menschen – allein in Köln betrifft das 300 000 Kinder – mit Hartz IV leben müssen. Wenn das modern sein soll, fasse ich mir an den Kopf.

Und wie lange hält das alles einer aus, der fast 40 Jahre Mitglied in der SPD ist?

Ich kann nicht sagen, wie lange.

Sie werden immer wieder als möglicher Überläufer zur Linkspartei gehandelt. Ist das für Sie vorstellbar?

Entscheidend sind die kommenden Monate: Programmdebatte, weitere Arbeitsergebnisse als Koalitionspartner, Wahlprogramm. Man sollte niemals Nie sagen.

Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer haben sich zu diesem Schritt entschlossen. Wie denken Sie über Ihre Ex-Genossen?

Ich habe das damals wie heute aus Sicht der beiden als logisch und konsequent angesehen. Ich kenne sie ja beide, habe lange Jahre mit ihnen zusammengearbeitet und auch heute gute Kontakte. Lafontaine hat damals auch inhaltlich für sich selbst Grundbedingungen formuliert. Er hatte angekündigt, Konsequenzen zu ziehen, wenn diese Grundbedingungen – keine Wunschträume, sondern Dinge, die im SPD-Programm nachzulesen sind – nicht erfüllt werden. Das hat er gemacht.

Wenn ich heute sehe, wie die SPD mit Repräsentanten der Linkspartei umgeht, ist das kein Zeichen von Souveränität, sondern von Schwäche. Gesellschaftspolitisch vertritt die Linkspartei programmatische Inhalte der SPD, die diese verlassen hat. Das Ergebnis innerhalb der SPD ist Nervosität.

Haben Sie auch solche Grundbedingungen für sich festgemacht?

Sicherlich. Aber der Zeitpunkt ist noch nicht erreicht, wo ich die Fahne raushalte.