Karl Nolle, MdL

SPIEGEL 23 / 2007, Seite 64, 03.06.2007

Erhängt im Wald

Der sächsische Skandal um Korruption und Rotlichtverbindungen von Politikern zieht weitere Kreise. Geheimdienstquellen berichten von Kinderpornografie und Mafia-Morden.
 
Das Neue Rathaus zu Leipzig ist mit Superlativen reich gesegnet. Der über 100 Jahre alte Verwaltungsbau hat mit 114 Metern einen der höchsten Rathaustürme der Welt und gehört mit seinen fast 600 Räumen zu den größten Rathäusern der Erde.

Büroarbeit in dem kafkaesken Bau muss jedoch nicht staubtrocken sein: Nach geheimen Dossiers des sächsischen Landesamts für Verfassungsschutz scheint das Leipziger Rathaus das frivolste der Republik zu sein, der Werbespruch der Stadt —„Leipzig kommt" — erhält danach eine ganz neue Bedeutung: Tschechische Prostituierte sollen nach Erkenntnissen der Geheimen im Amtsgebäude ihrer Arbeit nachgegangen sein, und zwar regelmäßig.

Der Vorwurf entstammt einem rund hundert Aktenordner schweren Dokumentenschatz, den die sächsischen Geheimdienstler über Jahre hinweg angelegt haben. Die Beamten hatten sich auf die Spuren des organisierten Verbrechens gemacht — und sind auf viele Indizien für gefährliche Verbindungen der Mafiosi zu Polizei, Justiz und Politik gestoßen. Es geht unter anderem um Korruption, krumme Immobiliengeschäfte, Kindesmissbrauch.

Die Geheimakten sollten aus juristischen Gründen vernichtet werden — bis vor drei Wochen der SPIEGEL über die heißen Papiere berichtete (SPIEGEL 20/2007). Seitdem erschüttert die Affäre den Freistaat, die Bundesanwaltschaft prüft die Unterlagen, die Dresdner Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen und einen externen Experten angeheuert. Und am Dienstag will der Landtag zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

Mit einem der Dossiers geraten nun auch zwei bundesweit bekannte Politiker in den Sog der Unterstellungen: Die beiden hätten, so der Bericht, „mehrfach" in Leipziger Diensträumen mit den Rathaus-Huren ihre Art von Spaß gehabt.

In dem Vermerk des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) werden Aussagen über Verbindungen der Stadtverwaltung zur örtlichen Rotlichtszene unter dem Decknamen „Abseits" zusammengefasst. Danach seien bis zu neun Prostituierte in regelmäßigen Abständen über spezielle Zuhälter angeheuert worden. Die Damen habe man dann „diskret ins Gebäude gebracht", damit sie einem „engen Mitarbeiterkreis" zu Diensten standen. Mitunter habe es städtische Angestellte — „insbesondere aus der Führungsriege" — auch nach Leipzig-Dölitz gezogen. Im dortigen „Relaxcenter Aphrodite" sollen sich die Bürokraten dann entspannt haben.

Die Hinweise des Dienstes über das angebliche Leipziger Treiben stammen von drei unterschiedlichen Quellen, die unabhängig voneinander Informationen für das Landesamt beschafften, und zwar im Zeitraum von April 2005 bis Mitte Juli 2005. Die Angaben der Quellen, etwa mit dem Decknamen „Jaguar", wurden von der Referatsleiterin Organisierte Kriminalität (OK) im Dienst als „glaubwürdig" eingeschätzt. Eine der Quellen saß offenbar im engen Umfeld des Rathauses.

Die Politiker werden namentlich auch nur von einer Quelle genannt. Diese habe, so der Dienst, absolute Vertraulichkeit erbeten. Erst 2006 stimmte sie einer Verwertung der Informationen zu. Grund: Ihr Gerechtigkeitsempfinden überwiege nunmehr ihren Ängsten. Die Quelle wolle allerdings „niemals mit dem LfV Sachsen in Verbindung gebracht werden".

Die Belege der Verfassungsschützer sind also denkbar dünn, juristisch sind viele der Geheimdienstanschuldigungen schwer verwertbar. Es ist völlig unklar, wie belastbar die Aussagen sind. Sachsens Justizminister Geert Mackenroth (CDU) versichert denn auch, Sachsen sei „kein Sumpf".

Doch das scheint verfrüht, denn die juristische Aufklärung des Komplexes hat gerade erst begonnen — und schon läuft gegen einen einstigen Leipziger Spitzen-Staatsanwalt, der noch jüngst von Mackenroth befördert wurde, ein Disziplinarverfahren. Der Mann soll laut Geheimdienstquellen 2002 den Zugriff auf ein Kinderbordell in Leipzig verhindert haben.

Tschechische Kinder von acht bis zehn Jahren sollten offenbar sexuell missbraucht werden. Die Polizei observierte und überwachte die Telefone. Doch plötzlich gab es nichts mehr zu beobachten: Die Rotlichtgrößen hatten wohl einen Tipp bekommen. Ein „ernst zu nehmender Hinweis", so behaupten die Geheimen, belaste den Top-Juristen.

Auffällig wurde der Beamte, der jede Stellungnahme zu den Vorwürfen ablehnt, schon häufiger. So bearbeitete 2001 ein Schlüsseldienst den Tresor im Dienstzimmer des Staatsanwalts, weil sich das Möbel nicht öffnen ließ. Den Handwerkern, so der Vermerk des Verfassungsschutzes, seien dann Videos mit Kinderpornografie regelrecht „entgegen gefallen". Einen dienstlichen Grund für die Sammlung habe es nicht gegeben. Der Beamte habe indes erklärt, der Tresorinhalt stamme von seinem Vorgänger.

Die Hinweise der Quellen, deren Wahrheitsgehalt unklar ist, gehen noch weiter. Der Staatsanwalt und ein befreundeter einstiger Richter würden „gelegentlich sexuell auf Kinder zurückgreifen". Von Flugreisen nach Thailand ist die Rede. Die Anschuldigungen lassen ein denkwürdiges Urteil aus den neunziger Jahren in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Seinerzeit wurde der Betreiber eines Kinderbordells unter Vorsitz jenes Richters zu vier Jahren Haft verurteilt. Bei einer späteren Vernehmung durch die Polizei gab der Verurteilte an, ihm sei vom Gericht ein ungewöhnlicher Deal vorgeschlagen worden: vier Jahre Haft, wenn er keine Freier nenne. Aber bis zu zwölf Jahre, wenn er auspacke. Der Mann schwieg.

Die Quellen des Verfassungsschutzes mutmaßen, dass der Richter selbst Kunde im Bordell gewesen sein könnte. Die Polizisten wollten den Juristen im Januar 2000 dazu vernehmen. Doch die Staatsanwaltschaft blockte ab: Eine Befragung sei „derzeit nicht erforderlich". Der belastete Ex-Richter war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

Die beiden Juristen sind nach Aktenlage nicht allein: Ein Leipziger Anwalt soll zum Beispiel laut Geheimdienstquellen seit Jahren Prostituierte „an hohe Justizbeamte und andere Personen des öffentlichen Lebens" vermitteln. Eine einschlägig bekannte Rotlichtgröße soll einen Staatsanwalt beim Sex mit einer Minderjährigen gefilmt und später unter Druck gesetzt haben.

Teile der Stadtverwaltung sollen laut Geheimdienst unterdessen der Leipziger Halbwelt bei ihren Geschäften weit entgegengekommen sein. So sollen sich umstrittene Unternehmer und Kommunalpolitiker regelmäßig im Leipziger Restaurant „Trattoria No. 1" getroffen haben. Dabei soll es, so der Verfassungsschutz, zu „rechtswidrigen geschäftlichen Absprachen" gekommen sein. Nach Verfassungsschutzinformationen sei es dabei auch um ein Grundstück nahe des Cospudener Sees an der Stadtgrenze Leipzigs gegangen. Laut den Quellen hat sich ein äußerst einflussreicher Kommunalpolitiker dafür eingesetzt, dass die Grünfläche Bauland wird.

Wer glaubt, die merkwürdigen Strukturen würden sich auf Leipzig beschränken, der wird durch die Akten eines Besseren belehrt. Auch anderswo war die Versuchung offenbar groß. So sagte ein italienischer Pizzabäcker aus Striegnitz, der 2005 seinen Neffen mit fünf Schüssen niedergestreckt hatte, hochrangige Polizeibeamte hätten bei ihm zum Beispiel kostenlos gespeist, sie seien ja seine Jagdfreunde.

Der Dienst identifizierte die Polizisten namentlich. Einer davon sitzt weit oben im sächsischen Polizeiapparat. Die Geheimen stufen den Fall als „Italienische OK" ein und sehen Anhaltspunkte für „strafrechtliche Verdachtsmomente".

Selbst in den hintersten Provinzen wurden die Schlapphüte fündig. Im vogtländischen Plauen etwa warten einflussreiche Männer bang auf eine Buchveröffentlichung des Eichborn-Verlags: Der Frankfurter Mafia-Kenner Jürgen Roth hat für Ende Juni sein neues Werk mit dem Titel „Anklage unerwünscht!" angekündigt. Untertitel: „Korruption und Willkür in der deutschen Justiz". Roth stützt sich darin auch auf Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, der rund um Plauen einen Klüngel aus Polizeibeamten, einem Bundestagsabgeordneten, Bauunternehmern und Rotlichtgrößen ausgemacht haben will.

Roth fand vor Ort ein „Plauener Spinnennetz", das manchen offenbar in ernsthafte Schwierigkeiten brachte. So wurde 1999 der angeblich in das Gewirr verstrickte örtliche Kripo-Chef erhängt im Wald gefunden. Ein Selbstmord erscheint vielen Insidern zweifelhaft.

Doch nun wird in Sachsen Aufklärung versprochen. Selbst das Bundesamt für Verfassungsschutz beteiligt sich an der Aktion, wenngleich auf merkwürdige Art. Die Kölner haben einen Beamten in geheimer Mission in die Elbmetropole entsandt: Er soll die undichte Stelle im Geheimdienst finden, also jene Person dingfest machen, die etwa den SPIEGEL informierte – und ohne die der Skandal vielleicht nie bekannt geworden wäre.
Von Steffen Winter