Karl Nolle, MdL

tagesschau.de, 11:21 Uhr, 15.06.2007

Viele Gerüchte, aber wenig greifbare Informationen

Fragen und Antworten zur sächsischen Korruptionsaffäre
 
Mafiöse Strukturen, Kontakte ins Rotlichtmilieu und illegale Immobiliengeschäfte: Leipzig steht im Zentrum der sächsischen Korruptionsaffäre. Akten des Verfassungsschutzes geben Einblicke in organisierte Kriminalität in der Stadt, aber auch in Chemnitz, Plauen und Hoyerswerda. Thomas Datt und Arndt Ginzel haben Fragen und Antworten zum "Leipziger Sumpf" für tagesschau.de zusammengefasst.

Warum gibt es so viele Gerüchte und so wenig greifbare Informationen?

Der Verfassungsschutz ermittelt nicht wie die Polizei, sondern sammelt Material. Dazu gehören auch Gerüchte, die jedoch in den Akten klar als solche gekennzeichnet sind. Die Qualität der Informationen ist offenkundig sehr unterschiedlich. So gibt es für die angeblichen Sexpartys von hohen Kommunalpolitikern in Leipzig lediglich einen Informanten, in anderen Fällen kamen bis zu drei voneinander unabhängige Quellen zum selben Schluss. In der Regel sind Geheimdienstinformationen juristisch nicht verwertbar, es sei denn, eine der Quellen des Verfassungsschutzes stellt sich der Polizei als Zeuge zur Verfügung. Hinzu kommt, dass die Ermittler bisher lediglich drei Zusammenfassungen aus den insgesamt knapp 16.000 Seiten der Datensammlung des Verfassungsschutzes erhalten haben. Inzwischen haben die zuständigen Dresdner Staatsanwälte den Geheimdienst aufgefordert, bis zum 1. Juli das komplette Material zu übergeben.

Wodurch wurde der "Leipziger Sumpf" öffentlich?

Mitte Mai veröffentlichten die "Leipziger Volkszeitung" und "Der Spiegel" einige der Vorwürfe, die der Verfassungsschutz zwischen 2003 und 2006 zusammengetragen hat. Die Informanten beider Medien wollten offenbar verhindern, dass der Großteil der Akten - wie vom sächsischen Datenschutzbeauftragten gefordert - vernichtet wird. Dieser hatte dem Verfassungsschutz vorgeworfen, rechtswidrig Daten gesammelt zu haben. Schließlich habe das sächsische Verfassungsgericht 2005 die Beobachtung organisierter Kriminalität durch den Verfassungsschutz auf die Fälle beschränkt, von denen eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehe.

Dennoch hat Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) Mitte Mai entschieden, die Erkenntnisse des Geheimdienstes an die Dresdner Staatsanwaltschaft weiterzugeben. Damit folgte er der einstimmigen Empfehlung der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK). Die fünf Geheimdienstkontrolleure von CDU, SPD und Linkspartei gehören zu den wenigen, die das gesamte Material einsehen konnten. Die Landesregierung entschied außerdem, Generalbundesanwältin Monika Harms einzuschalten. Zwei Zusammenfassungen von insgesamt 40 Seiten gingen nach Karlsruhe. Harms prüfte sie und erklärte sich für nicht zuständig. Sie bezweifelte, dass die Erkenntnisse überhaupt den Anfangsverdacht der Existenz einer kriminellen Vereinigung belegen.

Angestellte der Stadt und Lokalpolitiker sollen in krumme Immobiliengeschäfte verwickelt sein. Stimmt das?

Leipzig übte nach der Wiedervereinigung auf Spekulanten und Geschäftemacher eine enorme Anziehungskraft aus. Die einst reiche Handels- und Messestadt verfügte zwar über unzählige Gründerzeithäuser und Jugendstilvillen - vier Fünftel der Wohnungen mussten jedoch saniert werden. Durch schnelle Privatisierung der Immobilien versuchte die Kommune, den Verfall zu stoppen. Bereits 1993 kam der Verdacht auf, dass Manager städtischer Firmen ihr Insiderwissen missbraucht hätten, um privat günstig Häuser zu erwerben. Ein Gutachten zu den Vorwürfen schloss der damalige Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) unter Verweis auf den Datenschutz weg.

Angetrieben wurde das Leipziger Immobilienmonopoly vor allem durch Makler und Spekulanten, die massenhaft Ansprüche von Alteigentümern erwarben, um auf diese Weise in den Besitz von Häusern zu gelangen. In den ersten drei Jahren nach der Wiedervereinigung zeichnete sich die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) durch eine auffallend alteigentümerfreundliche Politik aus. Vor der Rückgabe ließ das städtische Unternehmen in vielen Fällen die Häuser komplett sanieren, stellte den Eigentümern aber lediglich die Reparaturkosten in Rechnung. Der Stadt soll dadurch ein Verlust von 40 Millionen Mark entstanden sein. Ende 1993 räumte der heutige SPD-Bundestagsabgeordnete Rainer Fornahl seinen Stuhl als Hauptabteilungsleiter der LWB. Nachfolger wurde Martin Klockzin. Bei ihm landeten alle Ansprüche von sogenannten Alteigentümern, deren Häuser oder Grundstücke zu DDR-Zeiten verstaatlicht wurden. Die einstigen Eigentümer konnten sich entschädigen lassen oder ihr Haus zurückfordern.

Klockzin änderte die LWB-Politik; von nun an legte das Unternehmen grundsätzlich Widerspruch gegen Rückforderungen von Alteigentümern ein. Dadurch konnte sich die Übertragung der Immobilien um bis zu zwei Jahre verzögern, was viele Interessenten verärgerte. Wer dem Widerspruch entgehen wollte, musste eine Abstandszahlung leisten. Geld, das die hochverschuldete LWB dringend für Reparaturen an ihren maroden Immobilien brauchte. Im Oktober 1994 eskalierte der Streit um ein Wohnhaus auf Riemannstraße 52. Klockzin wurde Opfer eines Anschlags, dessen bayerischen Auftraggebern er trotz von ihnen erworbener Alteigentümeransprüche das Haus verwehrt hatte.

Hinweisen auf illegale Immobiliengeschäfte gingen Ermittler nach, als sie nach einem Motiv für den Mordversuch an Martin Klockzin forschten.
Was änderte sich durch den Fall Klockzin?

Der Fall Klockzin gilt als Ausgangspunkt für die Materialsammlung des Verfassungsschutzes zu Leipzig. Am 17. Oktober 1994 öffnete Klockzin einem Telegrammboten die Wohnungstür. Mehrere Schüsse streckten ihn nieder; der LWB-Manager überlebte nur dank einer Notoperation. Die Täter - vier junge Kleinkriminelle - wurden rasch gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt; nur der geständige Schütze erhielt mit zwölf Jahren eine niedrigere Strafe. Lediglich geringe Geldstrafen zahlen mussten ihre Auftraggeber, zwei Immobilienhändler aus dem Allgäu. Sie wurden allerdings erst 1999 ermittelt. Das Gericht konnte ihre Aussage nicht widerlegen, sie hätten Klockzin nur eine Abreibung verpassen lassen wollen. Die Drahtzieher des Attentats fühlten sich von dem LWB-Mann übergangen, weil er ihnen ein Haus in attraktiver, innenstadtnaher Lage nicht verkaufte, obwohl sie dafür doppelt so viel boten wie ihre erfolgreiche Konkurrentin.

Die neue Besitzerin, eine Anwältin, vertrat Klockzin dann als Nebenklägerin im Prozess gegen die Attentäter. In den Verhören beschuldigten die Allgäuer Geschäftsleute Klockzin, im 1993 ausgehobenen Kinderbordell "Jasmin" verkehrt zu haben. Der sprach von Verleumdung. Dabei bleibt er bis heute, obwohl ihn inzwischen auch seine ehemalige Sekretärin öffentlich der Pädophilie verdächtigt und sich vor ihrer Aussage bei der Polizei von ihm verfolgt fühlte. Klockzin behauptet, die Frau sei psychisch krank. Belastet wird er jedoch auch durch die Aussage eines "Jasmin"-Mädchens. Sie erkannte den Manager in einer ihr vorgelegten Fotomappe und bezeichnete ihn als großzügigen Stammkunden. Diese Aussage hat sie im Jahr 2000 noch einmal bestätigt.

Eine zumindest zweifelhafte Rolle bei der Aufklärung des Klockzin-Attentats hat auch der langjährige Leipziger Oberstaatsanwalt Norbert Röger gespielt. Er könnte möglicherweise Einfluss auf die Ermittlungen genommen haben. So nannte er den Ermittlern als potenzielle Drahtzieherin die Frau des damaligen Oberbürgermeisters Lehmann-Grube, die bei Immobiliengeschäften mit Klockzin aneinander geraten sein könnte. Gegen Röger läuft inzwischen ein Disziplinarverfahren wegen des Verdachts auf Strafvereitelung in einem anderen Fall; für fragwürdige Transaktionen der Gattin des Ex-Oberbürgermeister fehlt jeder Beleg.

Nach Ansicht der Ermittler verbindet eine weitere Spur das "Jasmin" mit dem Klockzin-Komplex. Der Betreiber des Bordells erhielt eine Haftstrafe von vier Jahren und behauptet bis heute, die milde Strafe sei ihm als Gegenleistung für das Verschweigen prominenter Kunden angeboten worden. Richter in dem Prozess war der Lebensgefährte der Anwältin, die von Klockzin die umstrittene Immobilie zugesprochen bekam. Es wird vermutet, dass der Jurist sich durch Kontakte in die Rotlicht-Szene erpressbar gemacht haben könnte.

Mafiöse Strukturen im "Leipziger Sumpf"?

Wie gewalttätig ging und geht es im "Leipziger Sumpf" zu?

Mitte der 90er-Jahre wurde ein ZDF-Team bei Dreharbeiten in Leipzig angegriffen. Die Journalisten recherchierten zu möglichen Insidergeschäften mit Immobilien, die von hochrangigen Angestellten der Stadt getätigt worden sein sollen. 1996 verschwand Barbara Beer. Die skelettierte Leiche der für Grundstücke zuständigen Justizsekretärin im Leipziger Amtsgericht wurde im Jahr 2000 gefunden; ihr gewaltsamer Tod ist bis heute unaufgeklärt. Im selben Jahr wie Beer verschwand der junge Immobilienmakler Michael Mielke, der Kontakte zu den Klockzin-Attentätern hatte. Von ihm fehlt nach wie vor jede Spur. Erst vor kurzem überlebte eine Informantin des Verfassungsschutzes im Leipziger Rathaus nur knapp einen Drogenanschlag.

Innenminister Buttolo hat gewarnt, die Mafia werde zurückschlagen und die Aufklärung zu verhindern suchen. Gibt es dafür Hinweise?

Durchaus. Der Dresdner "Spiegel"-Korrespondent Steffen Winter wurde von einem Leipziger Immobilienmanager telefonisch aufgefordert, nicht länger im Umfeld der Firma zu recherchieren. Jener drohte, ihn anderenfalls als Kinderschänder zu diskreditieren, und warnte: "Du hast auch Familie". Wenig später rief der Anwalt des Unternehmers an und sprach von einem Missverständnis. Beide - der Manager und der Jurist - gehören zu den rund 200 Personen in Leipzig, die in den Verfassungsschutzakten unlauterer Geschäfte verdächtigt werden. Ähnlichen Druck übte die gleiche Firmengruppe bereits vor drei Jahren auf einen Leipziger Lokaljournalisten aus. Er untersuchte damals die Rolle des Unternehmens bei der Sanierung eines städtischen Prestigeprojekts.

Geht es bei dem Skandal vorrangig um Fälle in den "wilden" 90er-Jahren in Leipzig?

Das Geflecht aus anfälligen Juristen, Polizisten, Kommunalpolitikern, Immobilienmanagern und kriminellen Tagelöhnern hat sich offenbar in den ersten Jahren nach der Wende herausgebildet. Auffällig ist, dass bei Ereignissen, die die jüngere Zeit betreffen, immer wieder Personen genannt werden, die auch früher schon in zwielichtige Aktivitäten verwickelt gewesen sein sollen. So soll der damalige Leipziger Oberstaatsanwalt Norbert Röger im Jahr 2002 Verdächtige vor Ermittlungen wegen Kinderprostitution gewarnt haben. Ein Leipziger Anwalt steht im Verdacht, bis 2005 für hochrangige Kommunalpolitiker Edelprostituierte besorgt zu haben. Der Jurist soll vor zwei Jahren auch an einem Grundstücksgeschäft in Markkleeberg beteiligt gewesen sein, bei dem - so vermutet der Verfassungsschutz - mit Unterstützung eines einflussreichen Leipziger Kommunalpolitikers eine Fläche im Naturschutzgebiet in Bauland für Stadtvillen umgewandelt wurde. Hauptbetreiber des Projekts ist die weit verzweigte Leipziger Firmengruppe, deren Chef auf Anfragen eines "Spiegel"-Journalisten mit Drohungen reagierte.

In den Akten des Verfassungsschutzes soll es um Hurenbesuche im Leipziger Rathaus und um Kinderprostitution gehen. Worauf stützen sich diese Erkenntnisse und wie weit reichen sie zurück?

Ähnlich chaotisch wie das Immobilengeschäft breitete sich Anfang der 90-er Jahre das Rotlichtgewerbe in Leipzig aus. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung lieferten sich Zuhälter in der Stadt einen blutigen Straßenkrieg. Buchautor und Mafia-Experte Jürgen Roth hält die Informationen des Verfassungsschutzes für glaubwürdig, wonach es eine enge Verbindung zwischen dem Rotlichtmilieu, einzelnen Immobilienhändlern und Politikern im Rathaus gibt. Bereits 1993 sorgte das Bordell "Jasmin" für Schlagzeilen, weil dort minderjährige Frauen zur Prostitution gezwungen wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass Einladungen ins Bordell nicht nur als Schmiermittel dienten, um Entscheidungsträger gefügig zu machen, sondern auch, um sie später erpressen zu können. So sagte der einstige und später verurteilte Betreiber des "Jasmin" öffentlich, er verfüge über Videoaufzeichnungen von prominenten Kunden. Das Geschäft mit einflussreichen Freiern und minderjährigen Prostituierten soll - an wechselnden Orten - bis in die jüngere Vergangenheit weiter gegangen sein.